So erlebten wir den Ersten Weltkrieg. Martina Winkelhofer

So erlebten wir den Ersten Weltkrieg - Martina Winkelhofer


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bestand, brachte zwar ständig neue Spannungen hervor und in manchen Phasen stürzte eine Regierung nach der anderen – doch hatte Österreich-Ungarn auch eine gewisse Gelassenheit im Umgang mit Spannungen erworben. Zwar führte die vorherrschende Rolle der deutschen und ungarischen Bevölkerung in den slawischen Gebieten des Reiches immer wieder zu Unzufriedenheit, sorgten die Nationalitätenstreitigkeiten innenpolitisch immer wieder für Konflikte, man lebte aber trotzdem weiter in einem gemeinsamen multinationalen Reich.

      An der Spitze dieses Reiches, das mehr als 50 Millionen Einwohner hatte, stand der greise Kaiser, der, je älter er wurde, immer stärker zum Symbol der Donaumonarchie wurde. Er war die Klammer, die alles zusammenhielt, er garantierte die Einhaltung der Grundrechte – die seit 1867 für alle Bürger ungeachtet ihrer Nationalität oder Religion galten – und verkörperte das über Jahrhunderte gewachsene Reich: Kaiser Franz Joseph I.

      Der längstregierende Monarch, den die Habsburger hervorgebracht hatten, galt nie als außergewöhnlicher Herrscher. Jetzt im Alter hatte er aber für seine Untertanen eine größere Bedeutung, als es die meisten seiner Vorgänger hatten: Er war der Garant, dass der Vielvölkerstaat Bestand hatte – zumindest, solange er lebte. Der greise Kaiser war der eine gemeinsame Nenner, auf den sich alle einigen konnten.

      Trotz aller innenpolitischen Konflikte und den stets schwelenden Nationalitätenkonflikten: Den Menschen in Österreich-Ungarn ging es so gut wie nie zuvor. Während der 66 Jahre, die Franz Joseph bis dahin regiert hatte, konnten Schritt für Schritt immer größere Teile der Bevölkerung ihre politischen Rechte in Anspruch nehmen, 1907 wurde etwa das allgemeine, gleiche Wahlrecht für Männer in der österreichischen Reichshälfte eingeführt. Außerdem wurden bereits die ersten Schritte in Richtung einer Sozialgesetzgebung unternommen. Den meisten Menschen ging es spürbar besser als im Jahrhundert davor. Die medizinische Versorgung und die Ernährungssituation hatten sich extrem verbessert, die Sterberate war drastisch gesunken und die Industrialisierung ermöglichte breiteren Bevölkerungsschichten als bisher einen bescheidenen Wohlstand. Kulturell war Österreich-Ungarn sowieso auf seinem Höhepunkt: Ob Musik, Literatur, Malerei oder Architektur – als würden die ständigen Reibungen erst den Impuls zu kreativen Höchstleistungen geben, erlebte das Reich nun eine Hochblüte wie nie zuvor.

       Kaiser Franz Joseph

       Bei Ausbruch des Ersten Weltkrieges war Kaiser Franz Joseph knapp 84 Jahre alt. Er war bereits eine lebende Legende. Während der Revolution von 1848 kam er als 18-Jähriger auf den Thron. Die ersten Jahre regierte er noch als absoluter Monarch, doch nach etlichen militärischen Niederlagen und dem Finanzdesaster, das sich daraus ergab, blieb ihm nichts anderes übrig, als den Staat in eine konstitutionelle Monarchie umzuwandeln. Innenpolitisch musste der Kaiser ab nun seine Macht teilen, doch die Außenpolitik und der Oberbefehl über die Armee blieben weitgehend in seiner Hand. 1867 wurde die Monarchie in die k. u. k. Doppelmonarchie umgewandelt. Ab diesem Zeitpunkt teilten sich Deutsche und Ungarn die Macht im Vielvölkerstaat. Die slawischen Völker forderten immer lauter die gleichen Rechte, der Nationalitätenstreit war bis zum Ende der Monarchie das beherrschende innenpolitische Thema. Der Kaiser betrachtete sich als erster Beamter des Staates, er lebte nach unzähligen persönlichen Katastrophen nur mehr für den Erhalt der Dynastie: Kaiserin Elisabeth wurde 1898 von einem Anarchisten ermordet, sein einziger Sohn, Kronprinz Rudolf, beging 1889 mit seiner jungen Geliebten Selbstmord. Franz Josephs Pflichtgefühl und seine persönliche Bescheidenheit verhalfen ihm im Alter zu einer ungeheuren Popularität – politische Reformen erwartete allerdings niemand mehr vom alten Kaiser.

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      Franz Joseph I., der am längsten regierende Kaiser der Habsburger

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       Franz Ferdinand im Kreis seiner Familie (v. li.): seine Frau Sophie, der Thronfolger, die Söhne Ernst und Maximilian, Tochter Sophie

      Sarajevo

      Der Funke, der den Ersten Weltkrieg entzündete und damit einen Flächenbrand bisher ungeahnten Ausmaßes auslöste, entsprang am Balkan. Der österreichische Thronfolger Erzherzog Franz Ferdinand reiste Ende Juni 1914 zu Manövern nach Bosnien – es war das Ende einer fatalen Außenpolitik Österreich-Ungarns.

      Der Balkan war das Pulverfass Europas, dort war dem Kaiserreich ein gefährlicher Gegner erwachsen: Serbien. Seit geraumer Zeit auf erfolgreichem Expansionskurs (in den letzten beiden Jahren hatte es in den zwei Balkankriegen sein Territorium verdoppelt) und militärisch auf dem neuesten Stand hatte es mit Russland auch noch eine mächtige Schutzmacht hinter sich. Der Antagonismus zu Österreich ging auf die Frage der Provinzen Bosnien-Herzegowina zurück. Diese hatte sich Österreich-Ungarn 1908 einverleibt – im diplomatischen Jargon sprach man von »Annexion« –, nachdem man die Provinzen 30 Jahre für das Osmanische Reich verwaltet hatte.

      Für Serbien, das sich stets als Schutzmacht sämtlicher Südslawen betrachtet hatte und an einer Einigung aller südslawischen Völker unter serbischer Führung arbeitete, war die Annexion ein Affront. Ein Krieg konnte diplomatisch damals noch knapp verhindert werden, doch von jetzt an folgte eine Krise auf die andere. Österreich mobilisierte alle paar Monate unter großen Kosten Teile seiner Armee, Serbien gab im letzten Moment nach, breitete sich aber inzwischen auf dem Balkan weiter aus. In Wien stieg die Irritation über den unruhigen Nachbarn.

      Ende Juni 1914 brach Thronfolger Franz Ferdinand also nach Bosnien auf. Er wollte Manöverübungen besuchen, schließlich war er »k. u. k. Inspektor der gesamten bewaffneten Macht«. Begleitet wurde er von seiner Frau, Herzogin Sophie von Hohenberg. Das Verhältnis zwischen Kaiser Franz Joseph und Franz Ferdinand, der nach dem Selbstmord Kronprinz Rudolfs zum nächsten Thronanwärter aufgerückt war, gestaltete sich schwierig. Der alte Kaiser hielt den Neffen von der Politik fern, doch Franz Ferdinand mischte sich hinter den Kulissen immer wieder ein. Von den künftigen politischen Plänen des Thronfolgers sprach man auch in Serbien. Sollte Franz Ferdinand Kaiser werden, würden die Südslawen der Donaumonarchie zu einem dritten Reichsteil – neben Österreich und Ungarn – erhoben werden. Das sollte sie immun machen gegen die Verlockungen des Erzfeindes Serbien.

      Die Reise des Thronfolgers wurde von serbischen Nationalisten als Provokation aufgefasst. Der offizielle Empfang Franz Ferdinands in Sarajevo wurde für den 28. Juni 1914 festgelegt. Es gab Warnungen vor möglichen Attentaten, doch die Vorbereitungen der k. u. k. Behörden zum Schutz des Thronfolgers waren völlig unzulänglich – das haben nachträgliche Untersuchungen ergeben.

       Thronfolger Franz Ferdinand

       Als Erzherzog Franz Ferdinand erschossen wurde, war er 50 Jahre alt. Zum Zeitpunkt seiner Geburt deutete nichts darauf hin, dass er einmal Kaiser Franz Joseph auf den Thron folgen sollte. Franz Ferdinand war der Neffe des Kaisers, nach dem Tod von Kronprinz Rudolf wurde er der nächste Thronanwärter.

       Das Verhältnis zwischen Kaiser Franz Joseph und Franz Ferdinand war gespannt. Vor allem über die morganatische Heirat des Thronfolgers konnte der Kaiser nicht hinwegsehen. Franz Ferdinand hatte die Ehe mit der böhmischen Gräfin Sophie Chotek durchgesetzt und damit gegen die habsburgischen Ehegesetze verstoßen. Protokollarische Schwierigkeiten und Kränkungen durch den Wiener Hof führten zu einem Rückzug des Thronfolgers. Im kaiserlichen Schloss Belvedere baute Franz Ferdinand seinen persönlichen Hofstaat und sammelte einen Kreis, bestehend aus seinen Vertrauten, um sich. Für seine künftige Herrschaft hatte Franz Ferdinand umfassende Reformen im Sinn. Der Thronfolger galt als Gegner der Kriegspartei unter den Militärs – doch ausgerechnet sein Tod sollte den Kriegstreibern einen Vorwand für den lang herbeigesehnten Schlag gegen Serbien bieten.

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       Die Uniform des Thronfolgers: Die Blutflecken sind auch nach 100 Jahren noch sichtbar

       Das Attentat

      


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