Der argentinische Krösus. Jeanette Erazo Heufelder
Provinz veranstalteten Diskussionsseminars und liefert eine Momentaufnahme aus der Entstehungsphase dieses Instituts, das ein Jahr später in dem von Felix Weil gestifteten Neubau in der Frankfurter Viktoria-Allee seinen regulären wissenschaftlichen Betrieb aufnehmen sollte. Auf völlig unterschiedliche Weise hat fast jeder der zwanzig Seminarteilnehmer, die sich am Rande eines Feldackers für das Erinnerungsfoto aufgereiht hatten, zur Legendenbildung des Frankfurter Instituts für Sozialforschung beigetragen: Friedrich Pollock, der es mit Max Horkheimer später leitete. Bertolt Brechts marxistischer Lehrer Karl Korsch. Richard Sorge, der die eingeschlagene wissenschaftliche Laufbahn verließ, um als sowjetischer Meisterspion in die Geschichte einzugehen. Julian Gumperz und Karl August Wittfogel, deren ideologische Entwicklung in entgegengesetzter Richtung verlief und sie zu überzeugten Antikommunisten machte. Und schließlich Felix Weil, der sich höchst kreativ in dem Spannungsfeld von Geld und Geist zu bewegen wusste, wodurch 1924 überhaupt erst die Existenz eines marxistischen Instituts in einer erzkonservativen Universitätslandschaft möglich geworden war. Legenden entwickeln eine Eigendynamik, sind aber im Kern nicht weniger wahr als die historisch verbriefte Lesart der Wirklichkeit. Nur verdrängt im Fall Felix Weils die Legendenbildung – jüdischer Erbe eines Weizenimperiums kann seinen Vater dafür gewinnen, ein marxistisches Institut zu finanzieren –, dass sich Felix Weils Rolle nicht auf die Stiftung einer akademischen Einrichtung an der Frankfurter Universität beschränkte. Der Argentinier Felix Weil unterstützte in Deutschland kommunistische Freunde, sozialistische Gelehrte, linke Theatermacher, Buchverleger und Künstler, beteiligte sich an avantgardistischen Kinoproduktionen und politischen Wissenschaftspublikationen, ließ zur Geschichte der Arbeiter- und Sozialbewegungen forschen und sammeln und baute eine wertvolle marxistische Spezialbibliothek auf – ein geborener Mäzen wie sein Freund, der Maler George Grosz, einmal bemerkte.1 Er pendelte zwischen Ländern und Kontinenten, Gelehrten- und Kaufmannswelt, Großbürgertum und Arbeiterbewegung, war in der Kommunistischen Internationale und in der US-Air Force aktiv. Wie ein eleganter Maßanzug schmiegen sich die Widersprüche einem Leben an, dem die politisch explosive Grundstimmung der Zeit den roten Faden verlieh. Wo immer sich die Möglichkeit bot, griff Felix Weil diesen Faden auf, um mit ihm Verbindungen zum Marxismus zu knüpfen. Er war Mittelsmann und Netzwerker, und er sah sich als Macher, nicht so sehr als Denker.2 So erklärt es sich auch, dass ein Buch über den Gründer eines Instituts, das die Zeit des Nationalsozialismus im Exil überlebte und in der BRD unter dem Namen Frankfurter Schule berühmt werden sollte, ohne Exkurs auf die Theoriegeschichte dieses Instituts auskommt. Nach dem Tod Max Horkheimers im Jahr 1973 schrieb Felix Weil einen Brief an den Spiegel, in dem er um eine Richtigstellung bat: Im Nachruf auf Horkheimer hatte das Nachrichtenmagazin erwähnt, dass er – Weil – und andere im Institut im New Yorker Exil eine Heimstatt gefunden hätten. Weil wies den Spiegel darauf hin, dass er als gebürtiger Argentinier nie Deutscher und in New York somit auch nie ›Refugee‹ gewesen sei. »Wenn also von einer ›Heimstatt‹ geredet werden kann«, schrieb er, »so fand nicht ich eine beim Institut, sondern es bei mir, denn ohne meine neue Gabe von 100.000 Dollars hätte es nicht weiterbestehen können.«3 Felix Weil war ›the man with the money‹,4 der – radikalisiert durch die revolutionäre Stimmung nach dem Zusammenbruch der wilhelminischen Ära – die Weimarer Kultur dort förderte, wo sie links und politisch war, und auf diese Weise mitprägte, was zum Bleibenden und Gültigen dieser Epoche gehört. Immer am Puls der Zeit und überall die produktivsten Geister an sich ziehend.
In den letzten Lebensjahren hatte Weil damit begonnen, seine Lebenserinnerungen niederzuschreiben. Sein Hauptaugenmerk richtete er auf die Gründungsgeschichte des Instituts. Zur Fertigstellung sollte es freilich nicht mehr kommen. Ein Teil der unredigierten Aufzeichnungen fand nach seinem Tod den Weg ins Frankfurter Stadtarchiv und wird von Biografen der Frankfurter Schule als Quelle zur Gründungsgeschichte des Instituts genutzt. Als Quelle dient sie auch vorliegender Biografie über den Gründer selbst, dessen sonstiger Nachlass die Zeit nicht überdauerte. Felix Weils spät niedergeschriebene Erinnerungen gleichen jedoch dort, wo sie nicht die historische Rekonstruktion der Gründungsgeschichte des Instituts betreffen, einem Bild, das stellenweise übermalt wurde und erst einmal freigelegt werden muss. In Nachlässen und Biografien von Freunden und Weggefährten, wie auch in ausgewählten Archiven und Sammlungen, finden sich Korrespondenzen mit ihm und Dokumente, durch die sich Zeitbezüge und Zusammenhänge in die richtige Chronologie bringen lassen, sodass das Licht nun breiter gestreut auf den Finanzier des Frankfurter Instituts fällt und auch jene Aspekte seines Mäzenatentums beleuchtet, bei denen die Quelle im Frankfurter Stadtarchiv versiegt.
Ein Reich aus Weizen
Die Welt – sie zeigte sich dem Kind in den ersten neun Jahren seines Lebens in Form riesiger Weizenfelder. »Diese Ähren hier, das ist unsere Armee! Damit kämpfen wir!« Das waren die Worte des Vaters, die dieser bei seiner Ankunft in Argentinien selbst schon von einem argentinischen Bekannten zu hören bekommen hatte.5 Hermann Weil hatte es beim Anblick eines endlosen Ährenfeldes, das hundert Mal größer als die durch Erbfolge geschrumpften Felder seiner Heimat war, die Sprache verschlagen. Kaum, dass er ihrer wieder mächtig war, verglich er die aufrecht stehenden Ähren in seiner Begeisterung mit der Armee des preußischen Soldatenkönigs Friedrich Wilhelm. Aber wäre in dieser Heerschar hoch gewachsener Getreidehalme jedes Einzelne tatsächlich ein Wesen aus Fleisch und Blut gewesen, hätte es der junge Getreidekaufmann weit nüchterner registriert. Ihn reizte gerade die menschenleere Weite Argentiniens, die Raum für endlose Weizenfelder ließ. Es gab Land im Überfluss, ein mildes Klima, das fruchtbare Böden zeugte. Die Schienenwege wurden gerade verlegt und die Flächen, die bereits kultiviert wurden, gaben einen Vorgeschmack auf das, was möglich wäre.
Dabei hatte der gewaltige Getreidestrom, der sich von hier aus in einigen Jahren in alle Länder ergießen sollte, 1890, als das Schiff mit Hermann Weil an Bord im Hafen von Buenos Aires anlegte, gerade mal die Ausmaße eines Rinnsals erreicht. Was den aus dem kleinen badischen Ort Steinsfurt bei Sinsheim stammenden Auswanderer bewog, Argentinien trotz der noch fehlenden Infrastruktur als Zielland zu wählen, war eine Wette auf Argentiniens Zukunft als Getreideexport-Nation: In wenigen Jahren würde das Land an der Südspitze Südamerikas in einem Atemzug mit Russland, Nordamerika und den Donauländern genannt. Davon war der junge Getreidekaufmann überzeugt. Er hatte sich nach Beendigung seiner Mannheimer Lehrzeit bei seinen bereits ausgewanderten älteren Brüdern in der Weizenkammer Nordamerikas umgesehen und festgestellt, dass in den USA die Weizenproduktion im Wachstum nicht mit der Einwanderung Schritt halten konnte.6 Der Weizen, den Nordamerika anbaute, wurde an erster Stelle für die Versorgung der eigenen Bevölkerung gebraucht. Dann erst kam der Export. In Argentinien war es umgekehrt.
Als die Pioniere unter den internationalen Getreidehändlern in die künftigen Getreideregionen der Pampaebene an der Südostküste Südamerikas vorstießen, war die Landschaft in den Provinzen von Buenos Aires, Santa Fe, Córdoba, Entre Rios und der Pampa Central zum größten Teil noch Grassteppe. Argentiniens künftige Weizenregion erstreckte sich über eine Fläche, die mehr als zweimal so groß wie Deutschland war.7 Doch so unendlich weit sich die baumlose, monotone Ebene in alle Himmelsrichtungen ausdehnte, so sehr konzentrierte sich ihr Besitz auf die Namen jener spanisch-argentinischen Familien, unter denen der Staat das einstige Indianerland aufgeteilt hatte, nachdem sie ihm die Feldzüge gegen die angestammten Bewohner finanzieren geholfen hatten. Ein kleiner, exquisiter Personenkreis konnte auf diese Weise bis zu zweihunderttausend Hektar sein Eigen nennen. In Erwartung künftiger Wertsteigerungen kaufte diese neue Kaste der Latifundistas in einer Zeit, in der eine Legua, fünfundzwanzig Quadratkilometer, für wenige Tausend Papierpesos zu haben war, viele weitere Leguas hinzu.8 Zwar lagen die im Westen durch die Anden und im Osten durch den Atlantik begrenzten Ländereien, die der Viehzucht dienten, zum Teil viele Tagesritte von der Hauptstadt entfernt, aber der Eisenbahnbau ließ die Distanzen schrumpfen. Und so verwandelten sich im Zuge des Ausbaus von Weideflächen selbst entlegenste Grassteppen nach und nach in grüne Alfalfa-Oasen.
Es stellte sich heraus, dass die kaum Steine aufweisenden und mit einer hellbeigen Decke aus schwerem, festem Löß überzogenen Böden, auf denen nun Rinderherden weideten,