Der argentinische Krösus. Jeanette Erazo Heufelder

Der argentinische Krösus - Jeanette Erazo Heufelder


Скачать книгу
er von einem Haufen größenwahnsinniger Marineoffiziere benutzt worden war, ohne es zu merken, und schämte sich. (…) Er war im Grunde trotz seiner Millionen ein sehr einfacher Mensch geblieben: Getreide, das tägliche Brot für so viele Menschen, war seine Welt, und er vergab sich bis zu seinem Ende nicht, dass er in bester Absicht an so viel Unheil indirekt mitschuldig war.«33

       Plötzlich Revolutionär!

      In seiner Schlussphase drängte der Krieg ins Frankfurter Straßenbild. Im Sommer 1918 tauchten feindliche Flieger am Himmel auf. Es kam zu vereinzelten Bombenabwürfen. Die Straßen füllten sich mit verletzten Kriegsheimkehrern und Invaliden. Aber im Alltag herrschte scheinbar weiter wilhelminische Normalität. Felix Weil studierte Volkswirtschaft an der Frankfurter Stiftungsuniversität. Anschluss zu seinen Kommilitonen fand er in der Cimbria, einer Burschenschaft, die zum Allgemeinen Deutschen Burschenbund gehörte, der liberalen Gegengründung zur Deutschen Burschenschaft. Im Unterschied zur Deutschen Burschenschaft, die ein Bekenntnis ihrer Mitglieder zu Deutschtum und Christentum verlangte und Schwarz-Weiß-Rot, die Farben der preußischen Monarchie, angenommen hatte, behielten die ADB-Burschenschaften wie die Cimbria die Farben Schwarz-Rot-Gold und folgten den Idealen der Corpsstudenten der Frankfurter Nationalversammlung, zu denen geheimes und freies Wahlrecht sowie Demokratie gehörten. Der entscheidende Unterschied zur Deutschen Burschenschaft aber war, dass im Allgemeinen Deutschen Burschenbund – zumindest vor 1918 – antisemitische Strömungen fehlten. Der Cimbria konnten auch Juden beitreten.34 Dank der Verbindungen, die sein Vater durch die Beratertätigkeit zu den militärischen Stellen unterhielt, konnte Felix Weil trotz seines Ausländerstatus ab 1917 freiwillig Kriegsersatzdienst in der Schützengräben-Abteilung der Frankfurter Kriegsamtsstelle leisten. Als ehrenamtlicher Hilfsreferent hatte er dafür zu sorgen, dass ein bestimmter Frontabschnitt des XVIII. Armeekorps ausreichend Stützholzbalken für die Schützengräben erhielt.

      Die nachmittägliche Praxis im Heeresamt machte die These von der Überlegenheit der freien Marktwirtschaft obsolet, die vormittags an der Universität im Fach Volkswirtschaft gelehrt wurde. Denn im Rüstungsbereich war die Planerfüllung an die Stelle des wirtschaftlichen Profits getreten. Die Lieferung von Stützholzbalken war von oben verordnete patriotische Pflicht. Doch als am 10. November 1918 die Proklamation der Hessischen Republik erfolgte, war noch am gleichen Tag die gesamte Kriegsamtsstelle wie leergefegt. Felix Weil allerdings musste sich erst von einem älteren Soldaten darüber aufklären lassen, dass die Stunde der Republik geschlagen hatte und die Macht vom Monarchen an die Arbeiter- und Soldatenräte übergegangen war. Um sich den Schwellencharakter des Moments zu vergegenwärtigen, griff er auf die Vorstellung zurück, die sich seine Burschenschaft davon machte, und stellte sich, in den Farben seiner Verbindung mit Band, Mütze und Bierzipfel bekleidet, dem revolutionären Arbeiter- und Soldatenrat zu Verfügung, der im Hotel Frankfurter Hof Quartier bezogen hatte. Kurze Zeit später half er schon mit, ein Munitionsdepot zu stürmen. Was ihm an Kampferfahrung fehlte, glich er durch Organisationstalent aus. Der von den Räten zum Frankfurter Polizeichef ernannte sozialdemokratische Rechtsanwalt Hugo Sinzheimer übertrug ihm am nächsten Tag die Leitung einer Arbeiterwehr, die für Ruhe und Ordnung auf der Straße sorgen sollte, solange nicht sicher war, dass die reguläre Polizei auf Seiten der Republik stand. Ohne zu zögern übernahm er das Kommando.

      Felix Weil spürte eine Art von grundsätzlicher Übereinstimmung mit allem, was um ihn herum passierte. Als er nachts schlaflos auf seiner Pritsche in der Hotellobby lag, begann er, im Erfurter Programm der Sozialdemokratie zu lesen, das ihm der Arbeiterwehrmann auf der Nebenpritsche geliehen hatte. Er fand dort Ansichten formuliert, die er – wie er zu seinem eigenen Erstaunen feststellte – selbst schon lange mit sich trug. Nur hatte er sie bisher noch nie zu Worten und Sätzen geformt, wie er sie jetzt lesen konnte: Die Produktionsmittel mussten in gesellschaftliches Eigentum übergehen, damit die Anstrengungen dem Wohle der Menschen dienten, die unter den gegenwärtigen Zuständen litten. Versunken in die Lektüre des schmalen Bändchens dämmerte ihm erstmals die Tragweite der Bedeutung des Wortes Sozialismus, auch bezogen auf die eigene Person. Bisher war es ihm nicht in den Sinn gekommen, dass er, Sohn eines Mannes, der mit Getreidehandel Millionen verdiente, der Corpsstudent, der sich im eigenen Wagen zur Universität chauffieren ließ, weltanschaulich Berührungspunkte mit der Arbeiterbewegung haben könnte. »Keine Frage: meine Gefühle waren auf Seiten des Sozialismus, und schon seit langem. Ich war mir nur dessen nicht bewusst gewesen!«35 Die Metamorphose geschah in einer einzigen Nacht. Einer kurzen, schlaflosen und aufgewühlten Nacht, der eine jahrelange, sich intensivierende Beschäftigung mit marxistischer Theorie folgen sollte.

image

      Felix Weil schrieb sich für das Sommersemester 1919 an der Universität Tübingen ein, denn dort hielt der Wirtschaftswissenschaftler Robert Wilbrandt Vorlesungen über Marxismus. Wilbrandt hatte der Sozialisierungskommission angehört, einer Expertengruppe, die im November 1918 von der Regierung eingesetzt worden war, um die Möglichkeiten einer Sozialisierung von Teilen der deutschen Wirtschaft zu überprüfen und diese gegebenenfalls vorzubereiten. Die Arbeit der Kommission wurde allerdings von Teilen der Regierung behindert. Nachdem nicht einmal die von ihr erarbeiteten Vorschläge für ein Gesetz zur Sozialisierung des Kohlebergbaus umgesetzt wurden, legten die Mitglieder Anfang April 1919 geschlossen ihre Arbeit nieder. Im Sommersemester 1919 hielt Wilbrandt wieder Vorlesungen an der Universität Tübingen. Noch vor Semesterbeginn hatte Felix Weil die Gründungsversammlung der ersten sozialistischen Studentengruppe Tübingens bei sich im Zimmer abgehalten und war im Anschluss als Delegierter zum ersten deutschlandweiten Treffen aller sozialistischen Studentengruppen nach Jena gereist. Dort lernte er Karl Korsch kennen, der Robert Wilbrandt in der Sozialisierungskommission assistiert hatte und sich in Jena gerade mit einem rechtswissenschaftlichen Thema habilitierte. Neben der Sozialistin Clara Zetkin, die auf Einladung der Tübinger Studentengruppe im Juni 1919 einen Vortrag im Schillersaal des Tübinger Museums hielt, wurde der marxistische Theoretiker Karl Korsch Felix Weils wichtigster politischer Mentor. Offiziell vertrat Weil im Vorstand der Studentengruppe weiterhin die gemäßigten Sozialisten. Privat verkehrte er im Umfeld Clara Zetkins und Karl Korschs vor allem mit Spartakisten und Kommunisten.

      Auf Wilbrandts Anregung hin begann er im Sommersemester 1919 eine Seminararbeit über den Sozialisierungs-Begriff, die im Arbeiter-Rat veröffentlicht worden war, zur Doktorarbeit auszuarbeiten. Er hatte sich bereits zur Promotion angemeldet, als er von der Universität einen Exmatrikulationsbescheid erhielt. Angeblich verhinderten strengere Wohnbestimmungen für ausländische Studenten in seinem Fall eine Fortsetzung des Studiums. Aufgrund der katastrophalen Versorgungs- und Wohnraumsituation in der unmittelbaren Nachkriegszeit durften ausländische Studenten nur mit einer Sondergenehmigung an deutschen Universitäten studieren. Erst nachdem er nachweisen konnte, dass er zum einen während des Krieges als Ausländer in Deutschland freiwillig Militärdienst geleistet hatte und zum anderen in Tübingen im Haushalt einer Cousine lebte, wodurch er keinem deutschen Studenten Wohnraum wegnahm, war ihm diese Studien-Sondergenehmigung für das Sommersemester 1919 in Tübingen erteilt worden. Warum sie für das Wintersemester plötzlich nicht mehr gültig sein sollte, obwohl sich an seiner Wohnsituation nichts geändert hatte, ließ sich formaljuristisch nicht begründen. Deshalb besuchte Felix Weil die Vorlesungen seines Doktorvaters zunächst einfach weiter. Doch es nahte der erste Jahrestag der Novemberrevolution, und die Polizei hatte bereits Pamphlete abgefangen, in denen der Württembergische KP-Bezirksvorsitzende und Jugendsekretär Willi Münzenberg die Jugend-Internationale zum Kampf aufrief.36 Das Landesministerium für Erziehung forderte von der Tübinger Universität im Oktober die Namen aller politisch aktiven Studenten an. Und der Rektor der Universität lieferte eine Liste ab, auf der sich auch die Namen zweier Ausländer befanden – nämlich der von Heinrich Süßkind sowie der Felix Weils. Er beließ es nicht bei der bloßen Nennung ihrer Namen, sondern forderte von der Polizei, diese gefährlichen Agitatoren, die in keinem Verhältnis zur Universität mehr stünden, so rasch wie möglich zu entfernen, um sie unschädlich zu machen.37 Beide wurden daraufhin tatsächlich verhaftet. Vom linken Rand der sozialistischen Studentenvereinigung hatte sich im Sommer eine neue Gruppierung abgespaltet, die mit dem Spartakusbund sympathisierte. Auf ihrer Mitgliederliste


Скачать книгу