Der argentinische Krösus. Jeanette Erazo Heufelder
ganz und gar als ganaderos. Sie hätten die Viehzucht nie mit Getreideanbau kombiniert, auch wenn dadurch große Teile ihrer Ländereien völlig ungenutzt blieben.10 Gegen Zusatzeinnahmen durch Verpachtung nicht genutzter Flächen hatten sie allerdings nichts einzuwenden. Und während sie selbst – im Zuge der infrastrukturellen Erschließung ihrer riesigen Besitztümer durch den Eisenbahnbau und im Zuge des wirtschaftlichen Fortschritts in der Fleischproduktion durch den Einsatz von Kältemaschinen – zu Fleischexporteuren wurden, experimentierten auf ihren verpachteten Landflächen Getreideproduzenten mit Saatweizen aus aller Welt, bis sich mit dem Barletta-Weizen eine widerstandsfähige und zugleich weiche Sorte durchsetzte, mit der argentinischer Weizen für den Getreidemarkt attraktiv zu werden begann.
Der Antwerpener Getreideunternehmer Mosco Z. Danon bewies bei der Eröffnung seiner Filiale in Buenos Aires sowohl ein Gefühl für das richtige Timing als auch für die richtige Wahl des Filialleiters. Denn er bot Hermann Weil den Posten an, kaum dass dieser von dem USA-Ausflug wieder in der Heimat zurück war. Wenngleich der junge Getreidehändler damals erst am Anfang seiner Karriere stand, war er in der Branche kein Unbekannter mehr. Denn der Mannheimer Kaufmann Isidor Weismann hatte seinen ehemaligen Lehrling mit knapp 18 Jahren zum Prokuristen seines Unternehmens ernannt.11 Dass dieser blutjunge Angestellte auch mit einem außergewöhnlichen kaufmännischen Talent gesegnet war, sprach sich unter den europäischen Getreidehändlern herum. Deshalb wusste Mosco Z. Danon ganz genau, dass er seine neue Filiale keinem Greenhorn anvertraute. Mindestens so groß wie die kaufmännischen Fähigkeiten waren Ehrgeiz und Aufstiegswille des 22-jährigen. Bevor Hermann Weil nach Argentinien aufbrach, verlobte er sich mit Rosa Weismann, der Tochter seines einstigen Lehrmeisters. Dass es zur Heirat nur käme, sofern sie der begüterten Kaufmannstochter keinen gesellschaftlichen Abstieg abverlangte, spornte ihn geschäftlich zu Höchstleistungen an.
Der argentinische Getreidemarkt war von Anfang an geprägt durch die speziellen Bodenbesitzverhältnisse im Land. Die Eigentümer der Felder glänzten durch Abwesenheit. Sie lebten in den eleganten Vierteln der argentinischen Hauptstadt oder im Ausland und überließen den Betrieb auf ihren entlegenen Estancias den Gutsverwaltern oder Mayordomos. Von den nie anwesenden Herren über die Ländereien war nicht zu erwarten, dass sie in die Getreideproduktion investierten, die ihnen stets fremd blieb. Weder fühlten sie sich für den Bau von Getreidesilos verantwortlich, noch vergaben sie Verträge mit so attraktiven Laufzeiten an die Pächter, dass diese den Anreiz verspürt hätten, den Bau dieser Silos selbst zu übernehmen. Da von den Latifundien-Besitzern nur eine verschwindend kleine Minderheit zum Landverkauf bereit war, wurden selbst große und wohlhabende Pächter nur in seltenen Fällen zu Landbesitzern.
Während in den USA und Kanada Getreide in Kornspeichern nach Qualitäten sortiert und gelagert wurde, blieb Getreide in Argentinien an den Eisenbahnstationen unter offenem Himmel in Jutesäcke verfüllt liegen. Begünstigt wurde der dadurch gegebene Zwang zum schnellen Abverkauf der leicht verderblichen Ware durch die antizyklische Erntezeit. Wenn in Russland, den Donauländern und Nordamerika Winter herrschte, begann in Argentinien die Erntesaison. Verschifft wurde das Getreide ab Januar, solange die nordamerikanischen Getreideproduzenten infolge des Winters in ihren Ausfuhrmöglichkeiten noch stark eingeschränkt waren. Nachdem Hermann Weil binnen weniger Jahre aus der argentinischen Danon-Filiale die profitabelste Dependance des international tätigen Antwerpener Unternehmens gemacht hatte, reiste er zu seiner Verlobten nach Mannheim und bestellte das Aufgebot.
Hermann Weil hatte sich seinem Sohn gegenüber stets als Atheist oder Agnostiker bezeichnet und zugleich eingestanden, dass er zwei Mal in seinem Leben zu religiösen Konzessionen bereit gewesen sei. Das eine Mal, als er bei seiner Trauung dem Wunsch seines Schwiegervaters nachgab und dem standesamtlichen Akt eine jüdisch-orthodoxe Zeremonie folgen ließ. Das andere Mal bei der Geburt des Sohns. Ihn hatte er katholisch taufen lassen und die Taufe damit begründet, dass sie in einem katholischen Land wie Argentinien gängige Praxis gewesen sei, sofern keine andere Religionszugehörigkeit angegeben wurde, woran er als Atheist keinen Gedanken verschwendet hätte. »Da ich damals weder als Protestant noch als Jude, noch als irgendein anderer Nicht-Katholik eingetragen wurde, war ich also für Argentinien katholisch« – so notierte es der Sohn 75 Jahre später.12 Was in einem argentinischen Standesamt entschieden wurde, spiegelte sich nicht automatisch in einem deutschen Melderegister wider – wie der Blick auf die Auszüge des alten Melderegisters der Stadt Frankfurt zeigt, dem zufolge Felix José Lucio Weil argentinische Staatsund israelitische Religionszugehörigkeit besaß.13 Nur Lucio, der Name des Tagesheiligen vom 8. Februar, dem Tag seiner Geburt, den er ebenfalls jenem argentinischen Standesbeamten verdankte, blieb ihm als dritter Vorname auch in Deutschland erhalten.
Kurz vor der Geburt des Sohnes vollzog Hermann Weil den Schritt in die Selbstständigkeit, da sich sein Antwerpener Arbeitgeber beim Cornern14 verspekuliert und Danon in den Bankrott geführt hatte. Er gründete mit zwei Brüdern, die ihm nach Buenos Aires gefolgt waren, sowie einem Freund aus Mannheimer Lehrtagen die Firma Gebrüder Weil und Partner. Der ›Partner‹ – das war der Mannheimer Jugendfreund, dessen Name nicht überliefert ist, der aber mit zehn Prozent an der neuen Getreideexportfirma beteiligt war. Hermann Weil gehörten fünfzig Prozent. Die übrigen vierzig Prozent teilten sich seine Brüder Samuel und Ferdinand. Das Unternehmen wurde unter dem spanischen Namen Hermanos Weil y Cía als argentinische Firma in Buenos Aires eingetragen. Wie schon die Heirat mit der Tochter seines Mannheimer Lehrmeisters schien Hermann Weil nun auch die Geburt des Sohnes geschäftlich anzuspornen. Konnte im Verkauf bisher aufgrund der fehlenden Lager- und Sortiermöglichkeiten nur über individuelle Weizenpartien verhandelt werden, ging er nun in Argentinien als Erster dazu über, den Weizen nach seinem spezifischen Getreidegewicht anzubieten.15 Laut Felix Weil war sein Vater sogar der Erfinder dieser Art von Getreideverkauf.16 Bei Barletta-Weizen, dessen Naturalgewicht zwischen 75 und 85 Kilogramm pro Hektoliter schwankte, orientierte sich Hermann Weil hinsichtlich der Preisgestaltung an einem Gewicht von 78 Kilogramm pro Hektoliter.17 Wog der Weizen mehr, stieg der Preis. Umgekehrt sank er. In Kombination mit Musterproben, bei denen Glutenanalysen vorgenommen wurden und die Menge der vorhandenen Schmutzpartikel in Prozentanteil hochgerechnet wurde, ließ sich nunmehr auch argentinischer Weizen nach Sortenqualität anbieten. Da das auf Seiten der Importeure Vertrauen voraussetzte, war es von Vorteil, dass das gesamte Geschäft mit Europa von einer recht überschaubaren Zahl Exporteure abgewickelt wurde, deren Geschäftsgebaren insgesamt als ›reell‹ galt.18 Im Grunde wurden achtzig Prozent des argentinischen Getreideexports von nur drei Unternehmen organisiert: Bunge & Born, Louis Dreyfus und Hermanos Weil. Auf der Welle des einsetzenden Getreidebooms war Hermann Weils Firma in kürzester Zeit bis ganz nach vorne in eine der drei Spitzenpositionen getragen worden. Dort zwar nur an dritter Stelle, besaß Hermanos Weil insofern jedoch die exklusive Position, das einzige argentinische Unternehmen unter den drei großen Exporteuren zu sein.
Hermann Weil ließ seinen Blick über das Weizenfeld streifen, das in ganzer Pracht und Herrlichkeit vor ihm lag. Beim Anblick des goldleuchtenden Ährenmeeres durchflutete ihn das gleiche andächtige Gefühl wie damals, als er zum ersten Mal eines dieser schier endlosen argentinischen Weizenfelder mit eigenen Augen sah. Am Feldrand ritt sein erstgeborener Sohn Felix auf seinem Pferd Matilda den schmalen Weg entlang. Ihm folgte, vorsichtig zum Pferd des großen Bruders Abstand haltend, die drei Jahre jüngere Tochter Anita Alicia auf ihrem kleinen Pony. Hermann Weils Blick wanderte von den Kindern zu der Mutter dieser Kinder, die neben ihm auf der Veranda ihrer Estancia im Liegestuhl lag. Dass er die früh begehrte Tochter des Mannheimer Getreideunternehmers Isidor Weismann heute seine Frau nennen konnte, erfüllte ihn mit ehrlichem Aufsteigerstolz. In wenigen Jahren war ihm ein geradezu schwindelerregender Aufstieg geglückt. Dass ein Selfmade-Millionär wie er in den Augen alter argentinischer Familien als neureich galt, störte ihn nicht. Neureich waren fast alle aus der deutschen Kolonie, die mit nichts als einem Paar verschlissener Hosen in Buenos Aires von Bord der Auswandererschiffe gegangen waren und heute im deutschen Klub verkehrten. »Kannst du es glauben?«, fragte er an seine Frau gewandt, während sein Blick wieder über das Land schweifte. »Das alles ist dir!«19
Auf dem Höhepunkt des Getreidebooms arbeiteten weltweit