Der Ameisenhaufen. Vera Russwurm

Der Ameisenhaufen - Vera Russwurm


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Aufnahme hat er noch nie gesehen.

      Der Timecode im Bild verrät, dass das Überwachungsvideo gestern Nacht knapp vor Mitternacht aufgezeichnet worden ist.

      In schlechter Bildqualität erkennt man eine dunkel gekleidete Gestalt, die sich mit einem schwarzen Etui in der Hand rasch auf das Büro des CEOs Hans Erschler zubewegt. Der Unbekannte ist durch Handschuhe, Sonnenbrille, Schal und Kappe so stark vermummt, dass nicht einmal zu erkennen ist, ob es sich um eine Frau oder einen Mann handelt. Vor der Bürotür des CEOs öffnet der Maskierte das Etui und entnimmt diesem feines Werkzeug. Damit macht er sich am Schloss von Erschlers Büro zu schaffen.

      Der Einbrecher wirkt ungeübt. Wegen seiner Handschuhe hat er Schwierigkeiten, mit dem feinen Werkzeug umzugehen. Als er versucht, mit einer Zange auf einen Schraubenzieher zu schlagen, den er ins Schloss geschoben hat, trifft er immer wieder daneben. Kurz hält der Dieb inne und lauscht. Dann werkt er weiter. Nach einer Weile hat er das Schloss geknackt, die Tür springt auf und er verschwindet im Büro des CEOs. Einige Augenblicke lang ist er so aus dem Sichtfeld der Überwachungskamera verschwunden. Jonas schaut zu Kevin. »Ein Aprilscherz im Jänner?«

      Kevin schüttelt dramatisch den Kopf, bevor er mit leidgeprüfter Miene sagt: »Die Maria hat geschrieben, dass sie schon die ersten Polizisten gesehen hat.«

      »Werden wir jetzt alle befragt, oder was?«

      »Schau, es geht weiter«, ereifert sich Kevin und stiert auf den Bildschirm. Doch man sieht nur mehr, wie der Einbrecher mit dem Etui in der einen und einem Koffer in der anderen Hand aus dem Büro kommt. Am Gang bleibt der Dieb dann etwa eine halbe Minute lang stehen, blickt den Gang entlang und geht erst dann schnellen Schrittes weiter.

      »Wer, glaubst du, war’s?«, fragt Kevin sensationsgeil.

      »Was meinst du jetzt?«

      »Alle fragen sich, wer’s gewesen sein könnte. Es gibt sogar eine Verdächtigen-WhatsApp-Gruppe.«

      »Ja, ein Einbrecher halt«, sagt Jonas genervt, denn die feuchte Kälte lässt seine Nase rinnen.

      »Ja, aber es ist doch glasklar, dass es einer aus der Firma gewesen sein muss. Nur wir wussten, dass sich dieses Geld in der Firma befindet. Und so gut wie alle haben gestern »witzige« Kommentare darüber geschoben, dass sie sich diesen Geldkoffer schnappen wollen.«

      Jonas hebt die rechte Augenbraue, die linke ist seit seinem missglückten Augenbrauen-Piercing taub: »Also ich habe gedacht, das Preisgeld würde erst kurz vorm Finale angeliefert werden. Ich meine, wozu sollte es schon jetzt hier sein, wo wir noch nicht einmal die erste Folge gedreht haben?«

      »Na wegen des Fotoshootings. Hast du das nicht mitbekommen?«

      Jonas schüttelt langsam den Kopf, also fährt Kevin fort:

      »Gestern war ja dieses zweistündige Fotoshooting mit der neuen, scharfen Moderatorin.«

      »Die findest du scharf?«

      »Sie ist zumindest ein neues Gesicht, aber angeblich ist sie eine ziemliche Zicke. Der Praktikant hat sie offenbar falsch am Telefon gebrieft und sie ist dann bei der Probe richtig ausgezuckt.«

      »Sorry, aber man kann auch nicht die Moderatorin vom Praktikanten briefen lassen. Das geht gar nicht.«

      »Stimmt«, pflichtet ihm Kevin bei und sagt schnell: »Ja, also das Fotoshooting war jedenfalls mit ihr, ein paar von den gecasteten Kindern und dem Koffer mit der Million Euro. Süße Kinder, sexy Frau und fettes Geld, du weißt ja, wie die Vorberichterstattung läuft.«

      »Der Geldkoffer ist dann einfach in der Firma geblieben?«

      »Der hätte eigentlich heute Früh wieder mit einem Spezialtransport zurück in die Bank gebracht werden sollen«, erklärt Kevin, während Jonas der Geruch von frisch gemahlenem Kaffee in die Nase steigt. Die Quelle ist ein Pappkaffeebecher, den eine Praktikantin gerade an ihm vorbeiträgt. Um möglichst schnell weg von dem Gespräch und zu seinem eigenen Kaffeegenuss zu kommen, sagt Jonas bloß: »Ich hab’ echt nichts davon mitbekommen.«

      »Wieder ein bisschen viel gekifft, hä?«, grinst der Redakteur, aber sein Witz kommt bei Jonas nicht besonders gut an. Als Antwort hebt er nur die rechte Augenbraue.

      Dabei versucht Kevin mit einer betont lässigen Geste sein Handy wegzustecken. Das überdimensionale Handy passt nur leider nicht in seine vordere Hosentasche.

      »Vielleicht warst es ja du«, scherzt Jonas.

      »So ein Scheiß«, lächelt Kevin, wirkt dabei aber gereizt, »ich glaub’, ich weiß, wer’s war.«

      »Und?«

      »Also, ich will niemanden ohne einen Beweis beschuldigen«, erklärt Kevin bedeutsam, indem er das Kinn leicht in die Höhe streckt wie ein Mann, der Gerechtigkeit zu kennen glaubt, »daher behalte ich meinen Verdacht lieber für mich.«

      »Auch gut«, sagt Jonas, »ich muss dann eh mal rein. Ich bin schon ein bissl spät dran. Bis dann.«

      Kevins Enttäuschung bleibt dem jungen Cutter nicht verborgen.

      2. Kapitel

      KLEINES STUDIO »SPIEGEL MIT EI« INNEN/TAG

      Sami bemerkt, dass die Moderatorin Franziska Naschhold panisch in seine Richtung stiert. Es ist offensichtlich, dass sie sich nicht mehr auf das Gespräch mit ihrem zweiten Gast der Morgenshow konzentrieren kann, einem Unternehmer, zur einen Hälfte Italiener und zur anderen Wiener, der mit einer brandneuen Technologie Pizza-Automaten herstellt. Sami schleicht sich so nahe wie möglich an die Moderationscouch heran. Offenbar stimmt etwas mit dem Ton nicht, denn der Tonmann gestikuliert heftig. Im Regiekammerl wird rasch reagiert: Schnell wird eine voraufgezeichnete Zuspielung abgespielt. Jetzt wird die Ursache des Problems klar: Franziskas enges Kleid ist gerissen und die Batterie vom Mikrofon ist von ihrer Unterhose, an der es festgemacht war, in ihre Strumpfhose gerutscht.

      »Kostüm ans Set, schnell!«, gibt Sami durch sein Funkgerät an das Team weiter. Die Moderatorin, Franziska Naschhold, wirkt indes den Tränen nahe. Sie ist ein erfahrener alter Hase im Geschäft und moderiert seit über zehn Jahren unterschiedlich erfolgreiche Sendungen. Vor Kurzem hat sie wegen einer Gewichtszunahme aber ihren jahrelangen Werbeauftrag mit einer Bio-Joghurt-Firma verloren und ist seither verunsichert.

      Eine Kostümlady hastet zusammen mit dem Tonmann auf die Moderatorin zu. Während sie versucht, mit Sicherheitsnadeln das Kleid von Franziska provisorisch am Rücken zusammenzuflicken, sodass man im Sitzen die Nadeln nicht sehen kann, verkabelt der Tonmann die Moderatorin neu. Dafür muss Franziska in ihre Strumpfhose greifen und die Batterie herausfischen. Für die erfahrene Franziska ist das zwar nicht unangenehm – das Wort »peinlich« ist schon seit Jahren aus ihrem Wortschatz gestrichen –, für den jungen Setpraktikanten Fabo, der der Kostümlady die Sicherheitsnadeln halten soll, hingegen schon.

      Der Ton schimpft über das Kostüm, sie könnten nicht einmal Kleider richtig auswählen, das Kostüm schimpft über den Ton, sie könnten nicht richtig verkabeln, und Sami gibt die Zeitangaben: »Noch zehn Sekunden Leute, noch fünf Sekunden, noch vier, drei, zwei, eins.« Und wieder sind sie auf Sendung: Noch rechtzeitig springen Ton und Kostüm von der Moderationscouch weg.

      Das Schlimmste scheint überstanden, aber Sami schaut auf die Uhr und sieht schon das nächste Problem auf sich zukommen: Der letzte Gast des Tages ist noch immer nicht erschienen und reagiert auch nicht auf seine Anrufe. Es ist nicht erst einmal vorgekommen, dass ein Gast aufgrund der frühen Stunde seinen Auftritt völlig verschlafen hat. Also hat Sami vorsorglich einen anderen Setpraktikanten mit dem Produktionswagen losgeschickt, um den Gast persönlich abzuholen. Aber auch der Praktikant ist seit über einer Stunde verschwunden und hebt ebenfalls nicht mehr ab. Wenn der Gast nicht allerspätestens in zwanzig Minuten in der Maske ist, wird Sami die Moderatorin darüber informieren müssen. Während einer weiteren Zuspielung wird er sie bitten, das aktuelle Gespräch in die Länge zu ziehen, um den Ausfall des nächsten Gastes zu kaschieren. Für Sami Gün, den Aufnahmeleiter der Frühstückssendung


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