Der Ameisenhaufen. Vera Russwurm

Der Ameisenhaufen - Vera Russwurm


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anderen Gesprächsrunde als Täterin genannt zu werden. Anschuldigungen und Verdächtigungen gegen jeden nur erdenklichen Mitarbeiter kursieren bereits. Die Hälfte davon ist natürlich vom Weberknecht höchstpersönlich erfunden worden. Die Auswirkungen solcher Gerüchte kennt Josepha wie keine andere, denn sie ist nicht erst einmal Opfer mittelgroßer Mobbingaktionen gewesen. Dass Maria weiß, dass Josepha als Minderjährige zweimal in Jugendhaft war, trägt zu ihrer prinzipiellen Nervosität bei. Für sie war es ein Segen, dass die Polizei heute Früh jeden einzeln vernommen hat. So hat Josepha nicht vor ihren Kollegen preisgeben müssen, dass ihr Strafregister nicht unbedingt ein unbeschriebenes Blatt ist. Als die Beamten beim Verhör von ihrer Vorgeschichte erfahren haben, wurden sie aufmerksam und haben sich genauer in Josephas Büro umgesehen. Sie musste sogar ihre Fingerabdrücke abgeben. Angeblich mussten Josephas Kollegen das nicht tun, doch zumindest wurde sie nicht auf das Kommissariat eingeladen. Dass Josepha als Eigenbrötlerin gilt, macht die Situation auch nicht besser. Dabei weiß Josepha um ihre Schwerfälligkeit beim Smalltalk, um ihre völlige Unfähigkeit, bei harmlosen Späßen im richtigen Moment zu lachen und um ihre fehlende Schlagfertigkeit.

      Eigentlich ist die Fernsehredaktion der völlig falsche Ort für sie. Viel lieber wäre sie Journalistin geworden: Ständig unterwegs zu sein, interessante Menschen zu treffen, tiefgründige Gespräche zu führen und sich zwischendurch sogar in Lebensgefahr zu begeben – das wäre es gewesen! Das Schicksal hat Josepha aber nicht zu einer Zeitung, sondern zu »MasterTV-Österreich« gespült. Sie ist zufällig, fast ungewollt und doch geradewegs in das offene Maul »der Branche« hineingestolpert.

      Wie so häufig stehlen Nervosität und Müdigkeit Josepha die Konzentrationsfähigkeit. Ihre seit Wochen andauernden Schlafprobleme machen ihr zu schaffen. Also stellt sie auf ihrem Computer ein beschwingtes Abba-Lied an, das sie auf dem Weg zur Arbeit im Radio gehört hat und das nach einer Strophe von ihrer Tochter Noemi weggeschaltet worden ist. Ihre Laune passt zu dem fröhlichen Lied wie Senf auf einen Gugelhupf.

      Verstohlen schleicht Josepha zum Fenster und lässt die Jalousien herunter. Jetzt huscht die Redakteurin im Schutz der Dunkelheit zur Tür und versperrt sie. Josepha schließt die Augen und löst ihr Haarband. Statt des Dutts wallen nun dunkle Locken an ihren Schultern herab. Wie von selbst bewegen sich ihre mageren Arme zum Rhythmus der Musik, ihre schlanken Beine über den Boden, rauscht ihr langes, lockiges Haar durch die Luft. Sie springt, dreht eine Pirouette, noch eine, stößt sich den Fuß an und schreit auf. Nicht einmal der Schmerz holt sie länger als fünf Sekunden aus ihrer Trance. Der ganze Stress liegt vor ihr, ihr schwieriges Privatleben, ihr Unmut im Job – alles ist auf einmal greifbar, doch in diesem Moment ist sie ganz Herrin ihrer verzwickten Lage. Das Lied endet und schon hört sie ein verdächtiges Geräusch am Gang! Die Tür wieder entsperren und das obligatorische »MasterTV-Österreich-Lächeln« aufsetzen! Paranoid läuft Josepha zu ihrem Schreibtisch und würgt das zweite Lied ab, das automatisch folgt. Auffälliges Verhalten wäre angesichts der Geldkofferaffäre fatal.

      5. Kapitel

      GEBÄUDE ZWEI INNEN/MORGEN

      Jonas ist mittlerweile bei der Kaffeeecke angelangt und der erste doppelte Espresso des Tages fließt endlich in seine gelbe Smiley-Tasse. Über der Kaffeemaschine hängt ein Plakat für die neue Sendung »Ameisenhaufen« – das neue Format von »MasterTVÖsterreich«, das sich zum jetzigen Zeitpunkt noch in der Vorbereitungsphase befindet. Es ist ein österreichisches Original, wohingegen alle anderen Formate – sogar »Spiegel mit Ei« – Ableger der U.S.-amerikanischen Mutterfirma »MasterTV-US« sind. Jeder weiß, dass sich Herrschler damit ein Denkmal setzen will. Es ist gemeinhin bekannt, dass er den Ehrgeiz hat, endlich internationale Preise einzuheimsen. »Ameisenhaufen« ist daher auch die einzige Sendung, die dank ihres speziellen Stellenwerts dem CEO direkt unterstellt ist, und zwar ohne einen Show-Producer dazwischen. Es gibt zwar eine Redaktionsleitung, aber auf einen klassischen Producer hat Herrschler verzichtet. Vor vier Monaten wurde folgendes Konzept an Jonas und alle anderen Mitarbeiter verschickt:

      AMEISENHAUFEN

      Format: Weekly; Family-Game-Show

      Zeit: Hauptabend

      Länge: 45 Minuten

      Logline: »Kinder an die Macht!«

      Cast:

      Moderatorin: Kokett, neues Gesicht, blond, fesch.

      5 Kandidaten: Sympathisch, eher männlich und jung, möglichst hip und modern, am besten solche, die vorher noch nie etwas mit Kindern zu tun hatten.

      5 Kindergartengruppen: Je 50 Kinder zwischen 5 und 6 Jahren, bitte auf ethnische Vielfalt achten sowie mindestens auf ein blondes Mädchen. In jeder Folge sollen es neue Kinder sein, außer im Finale, dort sollen nur diejenigen auftreten, die sich als besonders schlimm/lustig/liebenswert/unterhaltsam herauskristallisiert haben. Insgesamt werden also 250 Kinder benötigt. So gibt es beim Finale für die Zuschauer ein Wiedersehen mit ihren Lieblingsrackern.

      Folgen: 6 Folgen, wobei die 6. Show die Entscheidungssendung ist, in der zwei Finalisten gegeneinander antreten.

      Ablauf: Jeweils einer der fünf Kandidaten muss mit einer immer gleichbleibenden Gruppe von fünfzig Kindern, die von fünf städtischen Kindergärten zur Verfügung gestellt werden, jeweils drei Aufgaben erfüllen. Eine mögliche Aufgabe wäre es beispielsweise, in fünf Minuten mit allen Kindern einen Fruchtsalat zuzubereiten.

      Die drei Aufgaben des Kandidaten werden jeweils am Anfang der Folge von ihm selbst gezogen. Am Ende der Folge stimmen die Kinder per Handzeichen ab, ob sie ihren heutigen Kandidaten als Kindergärtner haben wollen oder nicht. Es kommt aber überhaupt erst zur Abstimmung, wenn der Kandidat es schafft, zumindest zwei der drei Aufgaben mit den Kindern erfolgreich zu meistern. Jene zwei Kandidaten, die von den Kindern ins Finale gevotet werden, treten bei der 6. Show gegeneinander an. Schaffen es mehr als zwei Kandidaten ins Finale, entscheiden die Kinder per Schreien via Phonometer, welche zwei es werden sollen. Der Sieger gewinnt eine Million Euro Preisgeld.

      Unique Selling Proposition: Kinder sind gnadenlos und genau diese Gnadenlosigkeit wollen wir erstmals erfrischend unterhaltsam auf die Bildfläche bringen. Dieses Mal sind es die Erwachsenen, die die Gunst der Kinder erwerben müssen, um nicht von eben dieser Kindermeute vor laufender Kamera bloßgestellt zu werden.

      Dieses Konzept ist von einem österreichischen Privatsender angenommen worden und so in Vorbereitung gegangen. Herrschler hat daraufhin eine Rede vor seinen Mitarbeitern gehalten, fast so, als stünde der Emmy schon auf seinem Trophäenregal. Endlich konnte er vor dem US-amerikanischen Mutterkonzern einen Erfolg verbuchen. Obwohl Jonas Neuigkeiten in der Firma, die ihn nicht direkt betreffen, kaum interessieren, kommt er nicht umhin, von den neuen Entwicklungen der entstehenden Sendung Notiz zu nehmen. Auch er weiß, dass die Kandidaten mittlerweile gecastet sind, dass die Studiodeko bereits gebaut wird und dass endlich genügend Kindergartengruppen zur Verfügung stehen – auch wenn das angeblich eine Ochsentour mit dem Jugendamt gewesen sein soll. Jemand ruf seinen Namen. Jonas dreht sich um und sieht sich zwei Polizisten gegenüber: einem jungen, Solariumgebräunten Beamten sowie einer etwas älteren und wohlgenährten Beamtin.

      »Sie sind Herr Gambacher?«, fragt die rundliche Polizistin.

      Jonas nickt unsicher.

      »Wir haben ein paar Fragen an Sie und würden uns gerne in Ihrem Büro umsehen.«

      Jonas fällt das Herz in die Hose. Auch wenn er in Rechtsdingen nicht bewandert ist, weiß er dennoch, dass es nicht legal sein kann, Überwachungskameras zu hacken, um zum persönlichen Zeitvertreib seine Kollegen zu beobachten.

      »Wo befindet sich denn Ihr Büro?«

      Wie auf einer Hochschaubahn im Prater schlägt sein Magen vor Nervosität einen Salto. Sachte deutet Jonas mit dem Kopf in eine Richtung. Die Polizisten gehen voraus, er ihnen nach. Dabei schwappt der Espresso aus Jonas’ Smiley-Tasse.

      »Warum sind die denn alle so nervös?«, kann Jonas den jungen Polizisten seine ältere Kollegin leise fragen hören. Halblaut antwortet sie:

      »Wenn du einmal länger im Job bist, verstehst


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