Der Ameisenhaufen. Vera Russwurm

Der Ameisenhaufen - Vera Russwurm


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einmal verstummt der gesamte Konferenzraum. Herrschler ist eingetreten. Er lächelt kühl, setzt sich auf seinen Thron und betrachtet die Runde.

      Es bleibt kaum Raum zum Atmen. Die Luft ist dick. Der Raum ist überheizt, die Fenster sind zu, die ersten Schweißtropfen perlen. Der Geruch im Zimmer wird streng, die Gesichter werden ernst, die Stimmung ist gespannt – der CEO spricht:

      »Die Polizei ist gerade dabei, Spuren zu sichern. In meinem Büro haben sie schon Fingerabdrücke gesichert. Heute Früh habe ich außerdem am Kommissariat als Geschädigter ausgesagt. Die Polizei hat mich darüber aufgeklärt, dass die Ermittlungen nun mindestens vier Wochen lang weitergehen werden. Dabei werden die Kriminalbeamten immer wieder hier sein und euch möglicherweise nach weiteren Details fragen, sofern sie schon ein erstes Verhör durchgeführt haben. Wie auch immer es sich darstellen wird – seid bitte kooperativ. Die Chance, den Dieb zu finden, ist für die Polizei aber eher gering. Leider muss ich euch mitteilen«, er hält inne und scheint ehrlich verärgert, als er weiterspricht, »dass das Geld wegen eines Formalfehlers nicht versichert war. Es ist überhaupt nur deshalb in meinem Büro gelegen, weil wir es für ein Foto-Shooting mit der neuen Moderatorin, Janina Talina, gebraucht haben.«

      ›Wieso redet Klein-Cäsar immer im Plural, wenn er sich doch nur selber meint?‹, fragt sich Jonas und blickt sich um.

      Die Mitarbeiter nicken, ihre Münder bleiben stumm und Herrschler fährt fort: »Euch allen wurde das Überwachungsvideo zugeschickt, aber leider sieht man tatsächlich sehr wenig darauf. Das Einzige, was wir sonst noch wissen, ist, dass der leere Koffer selbst am Wochenende im Donaukanal gefunden worden ist. Wenn einer von euch einen Verdacht hegen sollte, dann behaltet ihn bitte für euch, bis er sich erhärtet hat. Wir wollen hier ja keine Hexenjagd auslösen. Wir bitten um Zeugen, nicht aber um unhaltbare Anschuldigungen. Falls also jemand etwas beobachtet haben sollte oder dergleichen, kommt bitte zu uns.«

      Fäuste werden geballt, Lippen geleckt, Nägel gebissen, und das so unauffällig wie möglich. Auf Jonas wirkt es so, als wittere jeder der anwesenden Mitarbeiter seine Chance, seinem persönlichen Rivalen oder Gegenspieler einen Denkzettel zu verpassen. Herrschler setzt sich in seinem Thron zurecht und legt eine künstliche Pause ein. Jonas schaut zu seinen Kollegen, alle wirken verunsichert.

      Herrschler ergreift wieder das Wort: »Natürlich werden weder ich noch das Personalbüro jetzt Detektiv spielen, doch wenn sich Verdachtsmomente gegen einen von euch erhärten sollten, werden wir selbstverständlich ein Gespräch mit dieser Person in die Wege leiten! Aber wie gesagt, bitte keine unhaltbaren Anschuldigungen.«

      8. Kapitel

      VORPLATZ AUSSEN/TAG

      Die leichenblasse Praktikantin – ihr ist auf dem Weg zum Meeting auf einmal übel geworden – bekommt langsam wieder Farbe im Gesicht. Obwohl Sami eigentlich bei der Konferenz sein sollte, wartet er, bis sich das Mädchen wieder besser fühlt. Schluck für Schluck trinkt sie das Cola, das ihr Sami in aller Eile besorgt hat. Eine SMS von seinem älteren Sohn Patrick aus erster Ehe erreicht ihn. Patrick hat ihm erst gestern mitgeteilt, dass seine Freundin ein Kind von ihm erwartet. Sami wird also Großvater! Das Problem an der Sache ist nur, dass Patrick noch studiert und neben dem Ingenieursstudium nicht für eine Familie aufkommen kann. Er hat Sami also um Unterstützung gebeten und das, obwohl er immer noch Alimente für Gregor, seinen Sohn aus zweiter Ehe, zahlen muss. Frische Scheidungskosten hat er auch noch zu tragen. Seinen eigenen Vater, Mahir Gün, um Unterstützung zu bitten, kommt nicht infrage. Obwohl sich die beiden sehr schätzen, haben sie ein schwieriges Verhältnis zueinander. Mahir betreibt das kleine, türkische Restaurant »Evet« in Eisenstadt. Er ist Mitte siebzig und steht noch immer jeden Tag von früh bis spät in seinem Lokal. Letzteres bringt gerade genug ein, um Mahir selbst über die Runden zu bringen. »Evet« zu verkaufen und endlich in Pension zu gehen, kommt für ihn, den Wirt aus Leidenschaft, nicht infrage. Seit dem Tod von Samis Mutter ist das Restaurant sein Lebensinhalt.

      Für Mahirs Stammklientel ist er zudem so etwas wie eine wandelnde Lebenshilfe, die man in jeder Situation um Rat fragen kann. Manchmal erinnert sein Ratschlag tatsächlich eher an Orakelsprüche, die erstaunlich nah an dem dran sind, was tatsächlich eintreten wird. Als Sami klein war, hat sein Vater einmal zu ihm gesagt: »Sohn, du wirst ein großer Mann werden.« Damit hatte Mahir wohl nicht Samis heutigen Köperumfang gemeint. Sami weiß, dass es Mahirs Wunsch gewesen ist, ihn eines Tages als seinen Nachfolger das Lokal vergrößern zu sehen, um es später an seinen eigenen Sohn weiterzugeben, es vielleicht sogar zu einer wichtigen Einrichtung in Eisenstadt zu machen, zu einem Lokal, das es in jeden Reiseführer schafft. Obwohl Sami dem Wunsch seines Vaters nicht nachgekommen ist, hat sein Vater ihm das nie offen zum Vorwurf gemacht, dennoch weiß Sami, dass er für das Fernsehleben die Erwartungen seines Vaters enttäuscht hat. Das macht ihm zu schaffen. Im Gegenzug – so Samis Theorie – soll er zumindest versuchen, in der Fernsehwelt möglichst weit zu kommen, um dort »ein großer Mann« zu werden. Jedoch würde das bedeuten, nicht mehr ständig am Set stehen zu können, und genau zu diesem Schritt hat sich Sami noch nie entschließen können.

      Die Praktikantin nickt ihm zu und steht auf, doch ihr wird wieder schwindlig und ihre Lippen werden blutleer. Schnell setzt er sie wieder hin und fächelt ihr Luft zu. Zwei Polizistinnen tauchen vor ihm auf.

      »Sind Sie Sami Gün?«, fragt die Jüngere der beiden. Sami nickt und bemerkt, dass die Polizistin in seinem Alter ist und ihn eindringlich ansieht. Wäre die Dame nicht in einer Polizeiuniform, würde er aus ihrem Blick schließen, dass sie Interesse an ihm hat.

      »Wir würden Ihnen gerne ein paar Fragen stellen.«

      »Ja bitte?«

      »Sind Sie verheiratet?«, fragt die Polizistin und Sami muss unweigerlich lächeln.

      Die Konferenz wird Sami wohl vollständig verpassen …

      9. Kapitel

      GROSSER KONFERENZRAUM INNEN/TAG

      In der Zwischenzeit ist es im Konferenzraum unerträglich stickig geworden und es fällt Jonas schwer, Herrschlers Worten noch zu folgen: »Wegen des Diebstahls fehlt unserem Projekt nun eine Million Euro Budget. Der Sieger von »Ameisenhaufen« muss diesen Betrag aber gewinnen, sonst fehlt der Sendung jede Spannung und der Sender hätte wohl kein Interesse mehr daran. Das wollen wir nicht riskieren. Immerhin haben wir alle lange, hart und mit sehr viel Herzblut an diesem Format gearbeitet. Ihr seid doch alle mit Feuer und Flamme dabei!«

      Kurze, scheue Seitenblicke der Mitarbeiter. Feuer und Flamme sind im Moment vor allem ihre Körper, die das mittlerweile tropisch feuchtwarme Klima im Konferenzzimmer kaum mehr aushalten. Offenbar spinnt die Heizung, denn einige Tonmänner versuchen sie zurückzudrehen, doch sie heizt unberührt und erbarmungslos weiter. Leidenschaft ist jedoch bei den wenigsten zu spüren. Der CEO appelliert weiter an seine Mitarbeiter: »Dieses Projekt ist unser Kind und wir werden es nicht sterben lassen, nur weil einer von uns den Verrat begangen hat, dieses Geld zu stehlen! Daher werdet ihr natürlich verstehen, dass wir alle zusammenhalten müssen, um unserem Sendungsbaby das Heranwachsen zu ermöglichen! Wir können uns die gecasteten Kandidaten von außen nicht mehr leisten. Das wäre jetzt einfach zu teuer, dennoch muss die Sendung irgendwie über die Bühne gehen.«

      Ein ungutes Gefühl breitet sich aus, es wird mit Hufen gescharrt, Blicke sind auf die Tür gerichtet. ›Flucht!‹, denkt Jonas mit einer bösen Vorahnung. ›Angriff!‹, schallt es in Herrschlers Stimme: »Deshalb ist aus den Departments Schnitt, Buch, Redaktion und Produktion jeweils eine Person als Kandidat für die Sendung ausgewählt worden. Außerdem wird einer der Moderatoren ins Rennen gehen.«

      Die Kostümladys mokieren sich: »Warum nicht wir?«

      Worauf auch die Tonmänner einstimmen: »Ja, und warum nicht wir?« Der CEO erklärt: »Die genannten Departments habe ich ausgewählt, weil in diesen diejenigen Kandidaten sind, die ich für passend halte. Alle fünf sind grundverschieden und ergeben so einen guten Ersatz-Cast.«

      Mit einem Mal ist Jonas wieder sehr aufmerksam. Wäre er einer der Kandidaten, stünden seine Chancen, eine


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