Der Ameisenhaufen. Vera Russwurm

Der Ameisenhaufen - Vera Russwurm


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jeden Tag eine schwarze Hose, die – wie jede andere seiner breiten Hosen auch – mindestens zehn Taschen hat. Er gähnt, beißt in einen Mohnstrudel vom Frühstückstisch und denkt an die Warnung seines Hausarztes vor einem drohenden Diabetes. Stark Zuckerhaltiges soll er vermeiden, kann es aber nicht. Vor allem nicht am Set, wo immer ein ganzer Tisch voll mit salzigen und süßen Frühstücksleckereien steht, die er im Übrigen in aller Früh immer selbst vom Bäcker abholt.

      »Sami, hast du das schon gesehen?«, flüstert Linda, die Maskenbildnerin, ihm zu. Dabei wirbelt sie mit ihrem Smartphone hin und her: »Schau dir das Video da an!«

      »Wir können jetzt doch keine Filme schauen«, flüstert Sami zurück.

      »Keine Sorge, ist eh stumm.«

      Sami runzelt die Stirn und Linda spielt das Überwachungsvideo von dem Kofferdieb ab.

      »Das gibt’s doch nicht!«

      Leises Kichern von Linda, dann ihre Vertrauensfrage: »Wer, glaubst du, war’s?«

      Sami zuckt mit den Schultern.

      Linda: »Sicher einer aus der Buchhaltung.«

      »Vielleicht war’s auch jemand aus der Herstellungsleitung«, sagt Sami und denkt dabei an seine Exfrau Astrid. Immerhin befindet sich ihr Büro im selben Gang wie das des CEOs Herrschler. Jetzt bemerkt Sami, dass ihn Linda eingehend und auf einmal ganz ernst ansieht. Sie berührt seine Schulter:

      »Ich hab’ auch über ein Jahr gebraucht, um über meinen Exfreund hinwegzukommen.«

      Sami würde jetzt gerne länger reden, aber der Setpraktikant taucht neben den beiden auf und hat den letzten Gast der Morgenshow im Schlepptau. Mit einem Handzeichen bedeutet Sami seinem jungen Helfer, den verschlafenen Studiogast in die Garderobe zu führen.

      »Das wird schon wieder«, flüstert Linda und erhebt sich, um für heute Früh zum letzten Mal dicke Make-up-Schichten über Blässe und Augenringe zu schminken. In diesem Moment erhält Sami ein E-Mail auf seinem Smartphone, gesendet aus dem Eckbüro der obersten Riege der Firma, vom CEO Ing. Hans Erschler persönlich. Nach Drehschluss solle Sami das Team darüber informieren, dass alle länger bleiben müssen, denn um fünfzehn Uhr seien sie alle zu einem Krisenmeeting geordert. Es handle sich um den gestohlenen Geldkoffer. Sami seufzt, er hat sich schon auf seinen Mittagsschlaf gefreut. Da er, so wie fast das gesamte Team, für die neue Sendung »Ameisenhaufen« arbeitet, ist dieses Meeting höchst wichtig. Sami schickt Fabo los, um Zigaretten, abgepackte Salate, Sandwiches und Energydrinks zu kaufen. Wenn ein Fernsehteam von weiteren, unbezahlten Überstunden erfährt, muss etwas für seinen Schlund bereitstehen, vorausgesetzt der Aufnahmeleiter will weiterleben.

      »Bitte, gib dem Team heute wegen des Nachmittagsmeetings Bescheid«, sagt Astrid flüsternd dicht hinter ihm. Sami dreht sich um. Sie ist offenbar unbemerkt und leise, um die Dreharbeiten nicht zu stören, dicht hinter Sami getreten und hat ihm ins Ohr geflüstert. Er inhaliert ihren vertrauten Geruch. Am liebsten würde er sie in den Arm nehmen, stattdessen nickt er nur.

      »Sonst irgendwas Schreckliches passiert?«, fragt Astrid.

      »Alles gut – bis auf die Sendung«, flüstert Sami. Astrid lächelt.

      »Ich muss wieder nach oben. Mein Büro ist ja im selben Gang wie das vom Herrschler, deshalb durchsucht die Polizei gerade jeden Winkel darin ab.«

      »Ich hoffe, du hast ein Alibi«, witzelt Sami. »Und hoffentlich kostet mich diese Polizeiaktion nicht noch mehr Zeit. Sie haben mich eh schon eine halbe Stunde lang verhört.«

      »Werde ich auch verhört?«

      »Ja, ich glaube, alle werden verhört.«

      »Vielleicht war’s ja ich.«

      »Sami, du würdest nicht einmal einen Karabiner vom Lichtdepartment mitgehen lassen.«

      »Wenn du wüsstest, was für eine kriminelle Energie in mir steckt«, säuselt Sami scherzhaft, er will das Gespräch mit Astrid um alles in der Welt am Laufen halten. Doch sie muss – wie immer – weiter.

      Einmal mehr spürt Sami diesen Stich. Diesen Stich, wenn Astrid von ihm weggeht. Dabei wünscht er sie während eines Gesprächs meistens weit fort. Irgendwohin, wo er dieses Lächeln nicht mehr sehen muss. Kaum ist sie dann weg, wünscht er sie sich wieder zurück. Er will sie dann an der Hand nehmen, mit ihr in alle Bars und Lokale gehen, in denen sie gemeinsam unglücklich gewesen sind, in denen Astrid wegen ihres Konkurses und Sami wegen Astrid verzweifelt waren. Doch sie würden wohl nie wieder dort sein.

      Ein Glück, dass es jetzt Zeit ist, in der Garderobe Dampf zu machen. In zehn Minuten muss der letzte Gast am Set stehen.

      3. Kapitel

      VORPLATZ AUSSEN/MORGEN

      Ein typischer Freitagmorgen: Aus allen Gängen und Tunnel krabbelt es hervor. Mitarbeiter strömen heraus, als hätte jemand versucht, den Bau auszuräuchern, laufen wieder hinein, als gelte es, sich vor einem tobenden Sturm zu schützen. Vor allem jüngere, aber durchaus auch ältere Menschen laufen schreiend, lachend, schimpfend und Kisten schleppend durch Haupt-, Neben- und Notausgänge. Wüsste Jonas nicht, dass jede einzelne ihrer Handlungen einem größeren Ganzen diente und einen Handgriff in einem mächtigen, doch nicht immer greifbaren Universum darstellte, hätte es den Anschein, als hätten ihre unterschiedlichen Beschäftigungen rein gar nichts miteinander zu tun. Dieses größere Ganze ist »MasterTV-Österreich«, eine große Fernsehproduktionsfirma mit festen und freien Mitarbeitern. Die meisten von ihnen müssen häufig an zwei Projekten gleichzeitig arbeiten.

      Zwei uniformierte Polizisten und zwei Männer in weißen Schutzanzügen, die wohl zur Spurensicherung gehören, verlassen das Gebäude zwei.

      ›Bestimmt haben sie sich das Büro vom Herrschler genau angesehen‹, denkt Jonas und schaut zum Fenster des dritten Stocks vom Gebäude zwei zum Fenster des Eckbüros des CEOs. Auch wenn Jonas keine Gestalt am Fenster ausmachen kann, hat er das Gefühl, dass der Master von »MasterTV-Österreich« dort steht und auf seine Mitarbeiter herabblickt.

      Der CEO ist ein extremer Mensch. Gerüchte besagen, er sei in grauer Vorzeit mit einer wesentlich älteren, reichen Frau verheiratet gewesen, die er beerbt hätte. Ihr Tod sei ungeklärt geblieben. Mit ihrem Geld hätte er seine eigene Produktionsfirma aufbauen können. Danach sei er von »MasterTV-US« für ihre österreichische Dependance »MasterTV-Österreich« als CEO eingesetzt worden. Ob das stimmte? Keiner vermag es zu sagen. Auch das Internet schweigt zu Herrschlers Curriculum. Sicher ist nur, dass Herrschler tatsächlich eine kleine, eher erfolglose Produktionsfirma besessen hat. Die wahren Gründe für seinen plötzlichen Aufstieg durch den US-amerikanischen Fernsehkonzern liegen also im Dunklen. Man erzählt sich vieles über Herrschler, dabei hat kaum jemand direkt mit ihm zu tun. Er arbeitet ohne Unterlass und verlässt nur selten sein Büro. Nicht einmal zu Neujahr kommt er später als sieben Uhr Früh in die Firma. Jonas hat noch nie auch nur ein einziges Wort persönlich mit Herrschler gewechselt. Vorstellungs- oder gar Personalgespräche führt er grundsätzlich nicht selbst. Manche vertreten sogar die Theorie, dass er Gerüchte und Legenden über sich absichtlich verbreiten lässt, um weiterhin unangreifbar, unbesiegt und unangefochten seine Funktion als CEO bestreiten zu können.

      4. Kapitel

      VORPLATZ INNEN/MORGEN

      Es ist kurz nach neun Uhr vormittags. Auch die notorischen Zuspätkommer sind bereits in ihren Büros verschwunden. Nur Maria Weber, die hagere Redaktionsleiterin – von Josepha heimlich »Weberknecht« getauft –, schleicht am Gang vor den Redaktionsbüros umher. Sie stiehlt wie jeden Vormittag aus der nunmehr verlassenen Kaffeeecke die teuren Espresso-Kapseln. Aber genau deshalb, weil Marias Taschen pünktlich um neun Uhr voller Espresso-Kapseln sind, wird sie sich hüten, in Josephas Büro zu kommen – wie sie es sonst immer ungefragt tut. Das ist gut, denn seit dem Kofferdiebstahl fürchtet Josepha ihre Chefin besonders. Sie hat lange genug in der Branche gearbeitet, um heftige Intrigen so gut zu kennen wie ein Sträfling seine Zelle. Jedoch


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