Vorletzte Worte. Joesi Prokopetz

Vorletzte Worte - Joesi Prokopetz


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und Organisator ein vor Frömmigkeit triefendes, ausgedehntes Morgengebet gesprochen wurde. Kommandos wie »Links um, rechts um« und »Hände an die Hosennaht« waren gang und gäbe.

      Am Abend, nach einem frugalen Nachtmahl, fand der »Fahneabzug« statt, wo wieder vorgebetet und dann gemeinsam das Lied »Kein schöner Land in uns’rer Zeit …« gesungen wurde.

      Jeden Sonntag gingen wir nach Ötzerau (im Ötztal in Tirol) hinunter in die Sonntagsmesse, das Andreas-Hofer-Lied singend und »Wir ziehen über Straßen mit ruhig festem Schritt und über uns die Fahne, sie flattert lustig mit …« und: »Lasst die Banner wehen über uns’ren Reihen, alle Welt soll sehen, dass wir neu uns weihen. Kämpfer zu sein für Gott und sein Reich, mutig und freudig den Heiligen gleich …«

      Selbstverständlich alle Buben in Lederhosen, weißen Hemden, weißen Stutzen und »Haferlschuhen«, angeführt von Oberlehrer Stejskal mit Ziehharmonika, ebenfalls in Lederhosen, weißem Hemd, darüber einen grünen Spenzer, die stark behaarten Waden in dunkelgrünen Stutzen und auch mit »Haferlschuhen« an den Füßen. Also Tracht!

      In der kleinen Dorfkirche roch es nach Kuhdung, gegen den der Weihrauch im großzügig geschwungenen Kessel nicht ankam. Die Bauern und Bäuerinnen, die – alle in abgewetzter Tracht – ihre rauen und naturgemäß unmanikürten klobigen Arbeitshände gichtig gefaltet hatten, blickten stumpfsinnig entrückt und völlig weltfremd vor sich hin, beteten und sangen verhalten, stellten angestrengt Andacht her, die jedoch eher an Ausgeliefertsein erinnerte, indem sie in duckmäuserisch arglistiger Frömmigkeit versteinerten.

      Oberlehrer Stejskal – ein begnadeter Organist, wie es hieß – ließ stets ein mildes christliches Lächeln um seinen Mund spielen, wobei er seinen Kopf seitlich neigte und bei jedem Lidschlag die Augen befremdend lange geschlossen hielt, was ihm letztlich etwas Satanisches verlieh.

      An manchen Abenden saßen wir Buben am Lagerfeuer und Herr Stejskal erzählte uns etwas über das Herz Jesu und über unsere »Liebe Frau«.

      Ich erinnere mich, dass Herr Stejskal uns Buben oft und gerne übers Haar strich und auch sonst Distanzgefühl manchmal vermissen ließ.

      Die Strafe für kleinere Vergehen – lässliche Sünden – wie man sagte, waren Liegestütze über einer bereits angetrockneten Kuhflade. War die Sünde nicht mehr lässlich, sondern eine Todsünde gewissermaßen, wurden Liegestütze über frisch geschissenen Fladen angeordnet.

      Man sehnt sich nach Siegfried, dem Trachtentöter.

      Es gibt Regionen in Österreich, wo die einheimische Bevölkerung jeden Gast aus Marketinggründen duzen muss.

      »Griaß di, magscht was trinckchen?«

      »Von wo bischt?«

      »Gehscht Schiforrrn?«, wird man zum Beispiel in Tirol, kaum betritt man die »Zirbenstub’n«, gefragt. Hier muss das Du-Wort die Bärigkeit des alpinen Lebens unterstreichen und dem Nichtansässigen suggerieren, dass die aufgemascherlten Bauernhaus-Surrogate, die gulaschsuppigen Almhütten und die geschulte, hinterfotzige Bodenständigkeit des Hotelpersonals das typische Tirol sind, das es schon immer gewesen ist. Schon Maria Theresia sprach von »den goaschtig’n Tirolern«. Sie simulieren den stets fidelen, rauen, polternden, aber herzensguten Bergkameraden, der treu wie Gold ist. Die Tiroler sind vom Fremdenverkehrsmarketing bereits derartig indoktriniert, dass sie beinahe glauben, selbst so zu sein, wie man ihnen oktroyiert hat, sein zu müssen.

      Sie leben den Mythos Tirol.

      Der Tiroler ist voll kommunikativ, vor allem, wenn man ihn nicht anspricht.

      Das ist in Kärnten genauso, nur dass Kärnten kein Mythos ist, aber so tut, als wäre es einer. Der Kärntner, vor allem in seiner Ausprägung als Inhaber eines Fremdenverkehrsbetriebes, duzt dich auf eine Weise, die bei aller Lebensbejahung im Ausdruck keine Nähe aufkommen lässt. Das »Du« des Kärntners signalisiert Geringschätzung, Ablehnung und Distanz. Das »Du« zwischen zwei echten – lei-los’n – Kärntnern ist ein ganz anderes als das aus dem Wörthersee gefischte Tourismus-»Du«.

      Wenn ein Kärntner einen wie dich – einen Nicht-Kärntner – duzt, dann will er, dass du ein Tretboot von ihm mietest. So ganz verübeln kann man es den Kärntnern jedoch nicht, kommen doch seit vielen Jahren, seit Kärnten chic geworden ist, die Kosmoproleten vor allem an den Wörthersee. Irgendwelche Fatzken, die zu Hause subalterne Unterhilfswürmer sind und spätestens auf der Höhe von Krumpendorf zum »Executive Manager« mutieren, sich die Ray·Ban aufsetzen, um sich dann in den angesagten Lokalen wie die dummen Arschlöcher zu benehmen, die sie sind. Gipfelpunkt ist das alljährliche GTI-Treffen.

      Dass sich da ein ambivalentes Verhältnis zum Urlaubsgast entwickelt, ist logisch. Und dass diese Ambivalenz im touristischen »Du« mitschwingt, ist auch klar.

      Diese rein merkantile Beziehung des Kärntners zum Nicht-Kärntner bekommt der Kärntner mit der Muttermilch verabreicht.

      Viele Jahre ist es her, dass ich die Sommerfrische in Kärnten verbrachte. Ich schlenderte am Seeufer entlang, es war überraschend beschaulich, da duzte mich ein Kärntner und ich mietete ein Ruderboot von ihm. Ich ruderte mit kräftigen, zügigen Schlägen in den See hinaus, wo ich stehen blieb, die Ruder in den Nachen legte, mich der inneren Betrachtung hingab, die Wolken beobachtete, im sanft schlingernden Boot saß und tagträumend Ort und Zeit vergaß.

      Ein unsanfter Stoß gegen mein Boot ohrfeigte mich jäh in die Wirklichkeit zurück. Ein anderes Boot, in dem zwei Knaben tollten, hatte mich gerammt. Ich blickte verstört auf, und bevor ich ein Wort sagen konnte, bellte der eine Knabe mit heiserer Fistelstimme zu mir herüber: »Schlei.h di, du Brunzka.hel!«

      All das – so scheint es mir heute – liegt im »Du« eines Kärntners, wenn er es zu einem Nicht-Kärntner sagt.

      Und trotzdem: Kärnten ist für mich »Udo Jürgens-Land«.

      Das mag für viele eine Verniedlichung sein, ich weiß, aber ich werde das prägende Erlebnis nie vergessen.

      Ich war 16 Jahre alt und musste im Sommer am Wörthersee Urlaub mit meinen Eltern machen. War das alleine schon eine Zumutung, so kam hinzu, dass meine Eltern mich mit einer – im Rückblick – rührenden, damals für mich aber wirtschaftswunderlichen Nachkriegsspießigkeit als »Erwachsenen« behandelten und mir ständig sagten, mein kindisches Mürrischsein wäre nicht mehr angebracht, könne nicht mehr toleriert werden, sondern wäre, weil man ja kein kleines Kind mehr sei, einfach nur unsympathisch. Wir saßen in einem gepflegten Gastgarten direkt am Wasser, die Mittagssonne lachte mit der ganzen Kraft des carinthischen Sommers auf den Wörthersee.

      Die meisten Tische waren von Familien mit Kindern besetzt, es wurde gescherzt, gelacht, man rief sich von Tisch zu Tisch die süßen Sorgen mit den lieben Kleinen zu, schloss Freundschaften, trank schon mal Bruderschaft, die Frauen sprachen über den »Buben« oder das »Mädel«, die Männer – jeder von ihnen mindestens Abteilungsleiter – unterhielten sich über »den Betrieb«, und es lag diese unerträgliche Seichtigkeit des Seins in der Luft des Sommers 1968.

      1968, das Jahr des Aufbruches, der Revolte, der langen Haare, der sexuellen Befreiung. Das Jahr, in dem das Petting neu erfunden wurde. Ich breitete vor meinem Vater gerade meine Karriereplanung als Musiker aus. Schluss mit Schule. Gitarre lernen, einen Song schreiben, mit dem Kopf wackeln und berühmt werden.

      Meine Eltern, vor allem mein Vater, erklärten mir, dass meine Pläne völlig blödsinnig wären, ich gefälligst die Schule fertigzumachen hätte, Musiker zu sein nichtswürdig und ich doch jetzt schon beinahe erwachsen wäre und einen anständigen Beruf lernen und ein nützliches Mitglied der Gesellschaft zu werden hätte – und ich möge mich doch hier in diesem Garten, direkt am Wasser, umsehen. Das sei das Leben, die Wirklichkeit.

      Und wo ich doch gar nicht singen könne, meinte meine Mutter.

      Und dann kam Udo Jürgens.

      Wie Lohengrin auf seinem Schwan legte er in einem Motorboot am Steg an, sprang leichtfüßig an Land und hatte ein Mädchen am Arm, das dem »Bravo« entsprungen zu sein schien. Sofort erstarb im Gastgarten, voll mit


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