Vorletzte Worte. Joesi Prokopetz
Produkte uns wie auf einer Südseeinsel zu fühlen, in unendliche Weiten von Milchschokolade zu entschweben und bloß vermittels einer Herrenduftserie die Damenwelt aufzumischen.
Zwar kein »Thrillerleben«, aber doch ein bisschen Thrill erleben. Sicher, geborgen, harmlos. Die kleinen Freuden der Behaglichkeit. Oder wie eine weitgehend unbekannte Lebensweisheit sagt: Ein Leben ohne Freude ist wie eine weite Reise ohne Gasthaus.
Und genau darum thrillen uns die Thriller so. Beginnen sie doch meist mit Menschen, die geregelt, ja saturiert leben, um dann in eine Haarnadelkurve ihrer Biografie zu driften, die sie vollständig aus der Bahn wirft, hilflos macht, in Todesnöte bringt und Taten abverlangt, die man nicht mit akkurat geföhnten Haaren und stringent gebügelten Hemden tun kann.
Im Thriller wird der Protagonist / die Protagonistin zuerst auf die Mindestgröße, die man mit Hut und Gummisohle haben kann, zusammengestaucht, von den Mitmenschen allein gelassen, missverstanden, verdächtigt, selbst das Böse, der Antagonist zu sein, und in tiefste Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit gestürzt. Der Schurke scheint unbesiegbar und fährt hohnlachend einen Triumph der bösen Tat nach dem anderen ein. Ist das Opfer, das abrupt aus seinem Alltag gerissen wurde. Dann, eine bestimmte Zeitspanne mit der neuen Situation konfrontiert, richtet es sich in dieser schlecht und recht ein, sodass diese wieder Alltag wird, dann wächst er oder sie über sich hinaus, blickt der Furcht ins Auge und sieht, dass sie zwinkert. Und entwickelt auf einmal Kaltblütigkeit, Kampfkraft, rast im Rahmen diverser Verfolgungsjagden mit einem eigens dafür gestohlenen PKW halsbrecherisch durch eine Millionenstadt, ja findet oder erbeutet gar eine großkalibrige Faustfeuerwaffe samt ausreichend Munition, und der Mut des Löwen beginnt sich vorzudrängen.
Keine lähmende Rat- und Hilflosigkeit mehr vis-à-vis der Skrupellosigkeit des unheimlichen Unbekannten, keine panische Schnappatmung und kein Erbleichen bei jeder Fehlzündung eines Gebrauchtwagens mehr. Nein, der Held / die Heldin liest in Goethes »Wilhelm Meisters Wanderjahre« den Satz: »Die Vorsehung hat tausend Mittel, die Gefallenen zu erheben und die Niedergebeugten aufzurichten« – und beginnt, als beste Verteidigung, anzugreifen, sich an das schlechte Wetter und die oft nur unzureichend erklärte herrschende Dunkelheit im Film zu gewöhnen, und vor allem an die durchgehend nervenzerfetzende Musik.
Es kommt nach ersten Teilerfolgen des Helden / der Heldin zu einem neuerlichen vorübergehenden Vorteil des Missetäters, aber nur, um die Fallhöhe zu maximieren, aus der dann der – hopp oder dropp – Sturz in den Showdown folgt.
Im politisch korrekten Thriller kommt der Widersacher, der sich meist als kompliziert psychisch gestört herausstellt, nicht direkt durch die Hand des Helden / der Heldin ums Leben, sondern stürzt im Kampfgetümmel gerne mal zu Tode, verbrennt oder richtet sich selbst, um zu vermitteln, dass eine höhere Gerechtigkeit exekutiv tätig wurde. »Mein ist die Rache … et cetera … pp.«
Meist nur in B-Movies stirbt der Täter im Kugelhagel der Polizei.
Letzte Einstellung: Der Held / die Heldin kehrt in sein / ihr gewohntes Leben, in seine / ihre gelernten Abläufe zurück und nach einer meist leicht abgeschmackten Schlusspointe beginnt der Schlussroller.
Ist ein Thrillerleben eine valide Option?
Keine Angst. Alles ist gut.
Guten Morgen.
Mahlzeit.
Auf Wiedersehen.
Gute Nacht.
Es hat sich ausgethrillert.
Ist das nicht erbärmlich?
Die Leute wollen ja, wie gesagt, das Jetzt, die subjektive Zeitdehnung gar nicht. Weil die Menschen sich andauernd auf etwas freuen. Aufs Wochenende, auf die Feiertage, auf den Urlaub, auf Weihnachten, auf was weiß ich was. Niemand will mit dem täglich Gleichen, dem lebenslänglichen Jetzt etwas zu tun haben. Nur irgendein herbeigesehntes, noch nicht eingetretenes Ereignis in der Zukunft zählt, das Jetzt ist wertlos. Und darum wirkt sich die segensreiche Zeitdehnung auf die Menschen nicht positiv aus, nämlich dass die Zeit – selbstverständlich nur subjektiv – langsamer vergeht. Denn wenn das herbeigewünschte Ereignis eingetreten ist, freut man sich längst schon wieder auf das nächste, und das im Augenblick stattfindende ungeduldig Erwartete ist wiederum nichts wert. Man hört immer wieder: »Ach, wenn nur schon Freitag wäre« oder Ähnliches, und am Freitag heißt es – und das ist dann das Blödeste überhaupt – »Kinder, wie die Zeit vergeht«. Wenn bei dieser Äußerung tatsächlich Kinder anwesend sind, dann blicken sie nur ratlos drein. Wir sind ihnen bei der Suche nach dem Sinn des Lebens nicht behilflich.
Man muss sehr sehr achtsam sein, dass man durch das Wissen, was im nächsten Moment zu tun ist, ja, was geschehen wird, im Jetzt bleibt und nicht ständig vorauseilend den Moment versäumt. Oder sich gar auf etwas freut. Letztlich – auf was auch?
Das Leben gibt zu wenig her. Denn das Leben schreibt die besten Geschichten nicht. Gemessen an den geschriebenen, gestalteten, inszenierten Geschichten, sind die Lebensgeschichten überwiegend banal, verworren, in der Mehrzahl niedrig, austauschbar und voll von schlechten Dialogen.
Es gibt in der Lebenspraxis keine Vorkommnisse wie in »Der Name der Rose«, »Der große Gatsby«, »Wiedersehen in Howards End«, »Frühstück bei Tiffany« oder meinetwegen in »Der Schatz im Silbersee«.
Selbst Polizeiberichte aus der Wirklichkeit sind seicht, voraussehbar und unspektakulär. Und bei Weitem nie wirklich so grauslich wie in den Kriminalromanen. Weit und breit gibt es keine genialen Megaschurken wie Dr. James Moriatry, Phantomas oder Goldfinger, und keine luciden Ermittler wie Sherlock Holmes oder Hercule Poirot, nicht einmal einen Columbo, diese Kakerlake der Gerechtigkeit. Wären die Mörder alle so clever, fantasiebegabt und so intelligent wie die in der Kriminalliteratur, kein einziger Mord würde aufgeklärt werden und die Welt wäre ein Paradies des perfekten Verbrechens.
Und … um Gottes willen: Vielleicht ist sie es ja.
Die Tatsache, dass wir leben, dass wir sind, bedeutet ja zunächst für einen Geistesmenschen noch gar nichts. Ein Gefäß bestenfalls. Und wenn weit und breit nirgends etwas zu finden ist, womit man dieses Gefäß füllen kann, dann ist das Gefäß obsolet und könnte genauso gut weggeworfen werden. Nur Tage, an denen mir ein großer, ein komischer, ein grotesker, ein zorniger, ein faszinierender, meinetwegen ein schöner Gedanke durch den Kopf geht und ich ihn auch halten und zu Ende denken kann, das ist ein Tag, den ich brauchen kann. Ja, es muss nicht einmal ein ganzer Tag sein. Eine Minute, eine Sekunde nur, die das ephemere Jetzt anhält und mich einen Wechselschritt im Gleichschritt der Beliebigkeit machen lässt, genügte schon, um einen ganzen Tag mit Lebensbedenkens- und -berichtenswertem auszustatten.
Die Ärmsten sind die, die den Mangel an Lebensessenz – wissentlich oder nicht – spüren und sich in eine Lebenslüge hineinromantisieren, die jeden Sonnenauf- oder -untergang und all diese Abgeschmacktheiten mit so einem aufgesetzten Lebenskünstlergetue zu Lebenssinn hochstilisieren.
Ich hatte einen Onkel, zweiten oder sonstigen Grades, zu dem alle »Onkel Schmalschuh« sagten. Er war kein böser Mensch. Und trotzdem verdarb Onkel Schmalschuh einem jede herbeibegeisterte Freude. Dabei hieß Onkel Schmalschuh gar nicht Schmalschuh, er hieß Svaljuk. Aber seine Frau, Tante Klara, nannte ihn immer Schmalschuh. Denn als er sich ihr seinerzeit mit Svaljuk vorgestellt hatte, hatte sie Schmalschuh verstanden, und dabei blieb es.
Es war ein Kosename.
»Komm, Schmalschuh«, sagte sie, wenn sie bei uns zu Besuch waren. »Steh auf, bedanke dich für die Gastfreundschaft und komm!« Und Onkel Schmalschuh stand auf und bedankte sich. Tante Klara sagte dann immer: »Das nächste Mal müsst’s aber ihr zu uns kommen. Es war so nett!« Und Onkel Schmalschuh sagte: »Gar so nett, war’s auch wieder nicht!«
Er sagte es nicht böse, man hatte auch nicht den Eindruck, dass er sich nicht wohlgefühlt hatte. Er sagte es vollständig emotionslos, sodass man keinen Grund hatte, beleidigt zu sein, aber einem auch keine Chance gelassen wurde, es wenigstens ein bisschen als Spaß zu verstehen.
Sonst sprach Onkel Schmalschuh kaum etwas, aber wehe jemand sagte: »Mein Gott, war das schön.« Prompt kam, gewissermaßen ansatzlos: