Morgen ist woanders. Elisabeth Etz
passt, kein problem. ich wohne in der tannengasse, das ist gleich beim westbahnhof. lass dich einfach dort in der nähe absetzen, ich hol dich dann ab. bis morgen!
Der schreibt mir seine Adresse! Ohne mich zu kennen! Was, wenn ich der Massenmörder bin?
Ich suche mir den Weg zur Tannengasse heraus. Von der Wohnung meines Vaters brauche ich vielleicht eine halbe Stunde dorthin. Ich werde Andi am Sonntag um vier schreiben und mich um fünf beim Westbahnhof abholen lassen.
Mein Vater kommt erst spät abends zurück. Nicht, dass ich da schon schlafe, aber als ich den Schlüssel in der Tür höre, tue ich so. Ich will ihm die Verlegenheit ersparen, mit mir reden zu müssen und es doch nicht zu können. Am nächsten Morgen halte ich die Augen geschlossen, bis er aus dem Haus ist. Wohin auch immer.
Zu Mittag beginne ich, meine Sachen zu packen. Noch habe ich genug frische Wäsche, außerdem gibt es Waschsalons. Vielleicht kann ich auch Andi blueballoons Waschmaschine benutzen. Ich verstaue meine Dinge so gut es geht in meinem Tramperrucksack. Meine Schulsachen verstecke ich im Rückenfach. Ich gehe zwar nicht davon aus, dass jemand meine Sachen durchsucht, aber trotzdem. Jeremy sollte lieber nicht mit Schulsachen gesehen werden. Jeremy ist schon fertig mit der Schule. Der muss nicht lernen.
Kurz vor vier schreibe ich eine Nachricht:
Ich bin in einer Stunde am Westbahnhof. Wo treffen wir uns?
Nicht viel später kommt eine zurück:
warte bei gleis 8 – bis gleich
Ich reiße einen Zettel aus meinem Notizbuch und lege ihn mit dem Schlüssel auf den Esstisch. Dann bücke ich mich nach einer Plastikente, die auffallend unökologisch aussieht, und stelle sie daneben. Tschüs, schreibe ich diesmal.
Mehr nicht. Gibt auch nicht mehr zu sagen.
Ich drücke die Plastikente, bis sie quietscht. »Tschüs«, sage ich.
Dann gehe ich.
Westbahnhof
Ich bin eine halbe Stunde zu früh am Bahnhof. Kalter Wind weht mir ins Gesicht, als ich über die Plattformen schlendere, aber das macht mir nichts aus.
Andi erkennt mich sofort, was daran liegt, dass außer mir nicht viele junge Männer mit Tramperrucksack auf Gleis 8 herumstehen. »Hey«, sagt er und klopft mir auf die Schulter. »Herzlich willkommen in Wien.«
Ich nicke und grinse. »Hey.«
Andi enjoy-every-day-blueballoon hat ein unheimliches Redebedürfnis. Das ist mir recht, weil ich nicht genau weiß, wie sich Jeremy am unauffälligsten verhalten soll. Wie die Fahrt war, will Andi nur kurz wissen, dann beginnt er bereits, mir die Stadt zu erklären.
»Tickets für die U-Bahn und so kannst du überall kaufen oder per App, am besten du nimmst dir ein … hm, kommt drauf an, wie lange du hierbleibst … wie lang bleibst du?«
Wie lange hat Jeremy vor zu bleiben?
Ich beschließe, mich nicht festzulegen. »Das ist noch nicht sicher«, sage ich. »Ein paar Tage, aber wenn es mir gefällt, vielleicht auch länger. Aber wenn du …«
»Zu mir kommen am Mittwoch neue Leute«, unterbricht mich Andi.
»Bis Mittwoch früh kannst du also auf alle Fälle bleiben.«
»Oh, hey … thanks.« Ich darf nicht auf die englischen Einsprengsel vergessen. Schließlich bin ich Schotte.
»Du bleibst bestimmt länger«, ist Andi überzeugt. »Wirst sehen. Hier gibt es viel zu viel zu sehen, als dass du es in ein paar Tagen unterkriegst. Bei mir war mal ein Typ, der eigentlich nur auf der Durchreise war. Der ist dann sieben Monate geblieben.«
Ich lächle und nicke an den richtigen Stellen und setze einen Schritt vor den anderen. Es fühlt sich gut an. Es ist einfach.
»Wieso sprichst du eigentlich so gut Deutsch?«, will Andi wissen.
Darauf bin ich vorbereitet. »Ich war auf der deutschen Schule.«
»Und dort lernt man das so ohne Akzent?«
Ich nicke. »Ich bin ja schon in die Volksschule dorthin gegangen. Wir hatten fast alle Fächer auf Deutsch.«
Andi nickt anerkennend. »Nicht schlecht. Aber sicher voll schwierig, oder?«
»Wie man es nimmt. Sobald man sich daran gewöhnt hat, geht es eigentlich.« Kurz überlege ich, Jeremy mit einem deutschsprachigen Elternteil auszustatten. Vielleicht ist sein Vater aus Deutschland. Oder seine Mutter aus der Schweiz. Aber das würde bedeuten, dass Jeremy Familie dort hat, und die so schnell aus dem Ärmel zu ziehen, ist mir zu kompliziert.
Anscheinend gehe ich zu zielstrebig in die richtige Richtung, denn Andi sieht mich plötzlich verwundert an. »Sag mal, woher weißt du, wo wir hinmüssen?«, fragt er.
Ich zucke zusammen. Ist da ein misstrauischer Ton in seiner Stimme?
»Ich … habe es mir auf der Mappe angesehen«, stottere ich.
»Auf der Mappe?«
»Hm, on the map … also auf …«
»… dem Plan. Ach so.«
»Jaja, auf dem Plan, danke.«
Andi lacht. »Das passiert öfters, wenn man zweisprachig ist, oder?« Ich nicke, erleichtert, dass mir noch rechtzeitig eingefallen ist, einen Fehler einzubauen. Andi hat keinen Grund, misstrauisch zu sein. Es gibt keinen Anlass, daran zu zweifeln, dass ich wirklich Jay alias Jeremy bin und mir ein paar schöne Wien-Tage machen will. Warum sollte ich mich auch als jemand anderer ausgeben? Hätte gar keinen Sinn, Andi würde jeden anderen auch bei sich aufnehmen. Sich zu verstellen ist also gar nicht notwendig.
Tannengasse
Die Frage ist nur, wie ich es anstellen soll, am nächsten Tag pünktlich in der Schule zu sein. Aber Andi macht mir auch das leicht. Nachdem er mir die Couch im Wohnzimmer gezeigt hat, auf der ich schlafen werde, drückt er mir einen Schlüsselbund in die Hand. »Der hier ist für die Haustür und die beiden hier sind für die Wohnung. Der runde für oben und der eckige für unten.«
»Rund oben, eckig unten«, wiederhole ich.
»Wenn du’s durcheinanderbringst, probier einfach herum«, sagt Andi. »Da passiert auch nichts.«
Ich sehe ihn erstaunt an. »Danke.«
»Ich muss nämlich morgen echt früh raus«, sagt Andi. »Machs dir einfach gemütlich, nimm dir aus dem Kühlschrank, was du möchtest, fühl dich wie zuhause.«
Wie zuhause? Lieber nicht.
»Ich hab morgen leider einen langen Tag«, fährt er fort. »Aber am Abend können wir was trinken gehen oder so.«
Ich nicke. »Gerne.« Ich versuche, cool zu wirken, aber ich bin völlig verwirrt. Ein wildfremder Typ hat mir gerade seine Wohnungsschlüssel gegeben und mich aufgefordert, mich aus seinem Kühlschrank zu bedienen. Irgendwie ist das zu viel für mich.
Einen Moment lang muss ich ziemlich abwesend gewirkt haben, denn Andi lacht und sagt: »Fertig von der Reise, hm?«
Ich schüttle mich, wie um aufzuwachen. Dann lächle ich und nicke.
Mir fällt auf, dass Jeremy auffallend oft lächelt. Öfter als ich.
»Du willst sicher erst mal duschen.« Andi zeigt auf das Badezimmer.
»Nimm dir einfach ein Handtuch aus dem Kasten.«
»Oh, ja … thanks.« Jeremy sollte vermutlich ein eigenes Handtuch mithaben. Hat er aber nicht. Muss ich so bald wie möglich besorgen.
Im Badezimmer inspiziere ich die Pflegeprodukte,