Das Mädchen und die Nachtigall. Henri Gourdin

Das Mädchen und die Nachtigall - Henri Gourdin


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dem Empfang von Ausreißern beiwohnte, und an einen Journalisten von La Dépêche, der einen lobenden Artikel über die Organisation des Lagers schrieb. Laut ihm ein Paradies auf Erden. Im Juli inspizierte Pétain das mustergültige Lager von Barcarès, geplant für siebzigtausend Flüchtlinge in tausend Baracken mit jeweils siebzig Menschen! Die Zeitungen veröffentlichten Fotos und enthusiastische Artikel, in denen der Komfort in diesen Hunderten von ›Chalets‹ gerühmt wurde, die in einer Reihe angeordnet waren und deren Dächer aus Wellblech in der Sonne glänzten. Tatsächlich verhinderte das Wellblech jegliche Luftbewegung, und die Hitze darunter war grauenvoll.

      Im Frühling begannen die Soldaten davon zu reden, dass wir im Land untergebracht werden sollten. Die etwas wohlhabenderen Leute suchten Mädchen für ihren Haushalt, die Bauern Helfer bei der Feldarbeit. An einem bestimmten Tag kamen einige Matronen und begutachteten die Kandidatinnen: die Zähne, die Augen, die Muskeln … Wie Vieh. Doch es war eine Gelegenheit, aus dem Lager zu kommen und seine Haut zu retten. Meine Schwester und ich hatten uns eingeschrieben und gaben an, zusammenbleiben zu wollen: wir beide gemeinsam oder keine. Daraufhin wurde Teresa krank, und ich wollte sie nicht im Stich lassen. Die Krankheit wurde plötzlich schlimmer, und eines Nachts schreckte ich aus dem Schlaf auf: In meiner Umgebung fehlte etwas. Ich lauschte und begriff: ein Geräusch weniger. Es war Teresas Atmung.

      Ein schrecklicher Augenblick. Ihr Körper, am Vorabend noch heiß vom Fieber, drückte kalt an meine Hüfte und meinen Schenkel. Einen Moment lang versuchte ich die Realität zu leugnen, dann begann ich zu zittern. Am ganzen Körper. Meine Hände, meine Beine, meine Brust waren nur noch ein Beben. Meine Zähne schlugen in der Stille der Baracke aufeinander. Ich glaube, es war dieses Klappern, das die Aufmerksamkeit meiner Nachbarinnen auf sich zog.

      Was war danach geschehen? Ich erinnere mich nicht daran. Ich sehe mich mit offenen Augen liegen, ich spüre Teresas Druck an meinem Schenkel, und dann stehe ich am Eingang der Baracke, von meinen Kameradinnen umgeben. Wie jeden Morgen kommt die Gesundheitskontrolle, lädt den Leichnam auf die Bahre, bedeckt ihn wie immer mit einer Plane. Die Mädchen stehen schweigend da. Kaum ein Schluchzer oder eine Träne auf den Wangen.

      Dieser Moment hat sich in mein Gedächtnis eingegraben. Ich schließe die Augen, und alles ist wieder da: die gezielten, professionellen Handgriffe der Krankenschwestern in dem grauen Licht, das durch die kleinen Fenster fällt, das Prasseln des Regens auf dem Dach, der Matsch auf dem Boden und unten an den Wänden. Ich sehe die Schweißtropfen an der Stirn eines der beiden Männer herunterlaufen, die Ratlosigkeit auf den Gesichtern der Frauen, und ich höre in dem Getöse des Regens und dem Husten einer Kranken die ersten Takte von La maja y el ruiseñor – Das Mädchen und die Nachtigall – in mir aufsteigen, des Klavierstücks von Granados, dem spanischen Komponisten. Ich stehe regungslos da. Ich betrachte diese Männer und wie sie mit diesem Körper umgehen, als beträfe es mich nicht, so wie ich dieselben Männer andere Körper habe aufheben sehen, fast jeden Morgen seit meiner Ankunft in Argelès, und ich höre diese Melodie, die mich wiegt und umhüllt.

      Villefranche

      Der Leiter des Lagers ließ mich am späten Vormittag rufen.

      »Ich begleite dich«, sagte Julia und erhob sich.

      »Lass nur«, entgegnete ich aus meiner tiefen Niedergeschlagenheit heraus.

      Ich begab mich langsam zu dem kleinen Backsteingebäude mit den Büros und der Krankenstation. Dabei versuchte ich, auf den Holzplanken, die die Soldaten endlich über die Kloake gelegt hatten, das Gleichgewicht zu halten.

      Der Leiter erwartete mich, und er war nicht allein. Er unterhielt sich in seinem Büro mit einer kleinen rundlichen Frau, von der ich durch die offen stehende Tür zunächst nur den Rücken erblickte. Als ich eintrat, drehte sie sich halb um, begutachtete mich von Kopf bis Fuß, und ihr Blick blieb erst an meinen Beinen hängen, dann an den Hüften und an dem, was von meiner Brust noch übrig geblieben war.

      »Maria Soraya«, sagte der Soldat nach einem Räuspern. »Ist das dein Name?«

      »Ja, das bin ich.«

      »Madame …«

      »Puech, Félicie Puech.«

      »Madame Puech aus …«

      »Villefranche, Villefranche-de-Conflent.«

      »Madame Puech aus Villefranche-de-Conflent hat sich gemeldet, um dich aufzunehmen. Sie braucht Hilfe in ihrer Bäckerei, so ist es doch?«

      »Ja. Mein Sohn wurde eingezogen, wie ich Ihnen gesagt habe …«

      »Also …«

      Er fuhr mit seinem dicken, fettigen Finger über ein Blatt Papier.

      »Du hast mehrere Angebote abgelehnt, nicht wahr? Maria Soraya. Deine Schwester und du, ihr wolltet in derselben Familie aufgenommen werden, stimmt doch, oder? Nun …«

      »Ich werde mitgehen«, sagte ich entschlossen.

      »Du sprichst Französisch?«, fragte die Frau und blickte mir tief in die Augen.

      »Ein wenig. Ich verstehe es«, fügte ich auf Katalanisch hinzu.

      »Ein wenig!«, wiederholte sie enttäuscht.

      Sie erhob sich seufzend, und ich fragte mich, ob die Anstrengung, die diese einfache Bewegung ihr abverlangte, durch ihre Korpulenz, gewöhnliche Müdigkeit oder vielmehr durch den Ekel, den ich ihr einflößte, hervorgerufen wurde. Sie drückte meine Muskeln an den Oberarmen, zog meinen Rock bis über die Knie hoch, inspizierte meine Haare und lief währenddessen unablässig mit unentschlossener Miene und Seitenblicken hin zum Lagerleiter um mich herum. Als sie ihre Inspektion beendet hatte, setzte sie sich wieder, seufzte noch einmal und schaute mich mit ihren kleinen Marderaugen einen Augenblick aus der Entfernung an.

      »Marie also?«, fragte sie wiederum seufzend.

      »Ja, Madame.«

      »Gut. Ich nehme sie.«

      Sie nickte, und ich begriff, dass ich aus dem Lager herauskommen würde, um irgendwo in einer Stadt oder einem Dorf der Ostpyrenäen Brot zu verkaufen. Der Leiter des Lagers stempelte ein Blatt Papier und hielt es ihr hin.

      »Zehn Minuten«, sagte er, ohne mich anzusehen. »Du hast zehn Minuten, um deine Sachen zu holen.«

      »Der Zug wartet nicht«, setzte die Frau mit einem letzten Seufzer hinzu.

      Ich habe keine genaue Erinnerung an den ersten Teil unserer Reise, nur einige Bilder sind mir geblieben: Madame Puechs Bedrängnis in dem Moment, als sie auf den Lastwagen der Militärbehörde aufstieg, der Tumult am Bahnhof von Argelès, die eisernen Brücken über den Flüssen, das Grau des Meeres an der Flussmündung. Deutlich sehe ich jedoch den schwarzen Mantel und den kleinen Hut meiner Chefin unter einem großen Glasdach vor mir, das muss am Bahnhof von Perpignan gewesen sein. Und ich habe drei Trittbrettstufen und zwei sich gegenüberstehende hölzerne Sitzbänke vor Augen. Ein Reisender schickte sich an, meinen Koffer zu nehmen, um ihn auf der Gepäckablage über den Sitzplätzen zu verstauen, doch ich hinderte ihn daran und drückte den Koffer fest an mich. Ein kleines Ding aus aufgeweichtem Karton, an den Ecken eingedrückt, von Regen und Sonne verformt. Doch es war alles, was mir von meiner Vergangenheit geblieben war, das Einzige, was mich an meine Familie erinnerte.

      »Nun gut!«, murmelte Madame Puech deutlich genug, dass ich es hörte. Seht euch das an!, sagte ihr Blick. Seht diese Zurückgebliebene, die sich an ein Stück Karton wie eine Bettlerin an ihre Mütze klammert! Doch sie spürte, dass ich nicht von meinem Entschluss ablassen würde, und insistierte nicht. Sie ließ sich am Ende der Sitzbank am Fenster nieder und wies mir mit einer Kinnbewegung den Platz ihr gegenüber zu.

      »Setz dich dort hin«, sagte sie, als ich zu ihr kam.

      Sie wiederholte es auf Katalanisch. Ich ließ mich nieder und versuchte dabei unter den Falten dessen, was von meinem Mantel übrig geblieben war, die Flecken und Risse meines Rocks zu verbergen.

      »Nun, wir werden dich neu einkleiden«, sagte sie mit einem erneuten Seufzer, während sie mein


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