Das Mädchen und die Nachtigall. Henri Gourdin

Das Mädchen und die Nachtigall - Henri Gourdin


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Têt«, wiederholte ich und bemühte mich, mir dieses neue Wort einzuprägen.

      Frauen und Männer waren vor und hinter uns auf der Brücke unterwegs, bogen am Ende rechts ab und gingen an einer Steinmauer entlang, die von der Böschung hinaufragte. Ich erkannte einige Reisende aus unserem Abteil wieder, entdeckte aber auch Frauen in Schürzen und Arbeiter in Latzhosen, die ich weder im Zug noch auf dem Bahnsteig gesehen hatte. Waren das Bauern? Oder Eisenbahner, die von ihrer Arbeit zurückkehrten?

      All diese Leute redeten, pfiffen, machten Späße, grüßten meine Chefin, und ich zitterte. Vor Kälte und von der quälenden und sich immer wiederholenden Erinnerung an den Aufstieg nach Perthus unter den Schusssalven der nationalistischen Luftwaffe. Ich zitterte wegen der feuchten Kälte, die vom Fluss her aufstieg, und der Kälte, die diese Bilder in meiner Seele hervorriefen. Und zwar gegen meinen Willen. Im Gegenteil, ich bemühte mich, den Gesprächen um mich herum zu folgen, die Vorfreude an diesem Weihnachtsabend zu teilen. Aber immer tauchten dieselben Szenen wieder auf: der überstürzte Aufbruch im Feuerschein, die Leichen von Papa und Mama, das Blut an den Mauern und auf dem Straßenpflaster. Es war stärker als ich.

      Ich versuchte meine Gedanken wieder auf Bilder von schönem Feuerschein in einer Küche und von warmem Brot auf Regalen in einer Bäckerei zu lenken, doch das Grauen setzte sich durch, und mir wurde langsam schlecht. Schließlich ging ich auf die Mauer zu, an der wir entlangliefen, und ließ mich an ihr hinuntersinken, mit dem Rücken gegen den Stein. In diesem Augenblick, ja, da hätte ich gewollt, dass alles aufhört und dass Gott mich zu sich nimmt, zu den meinen.

      »Geht es dir nicht gut?«, fragte eine Frau und kam zu mir.

      »Die Kleine hier fühlt sich nicht wohl«, sagte eine andere direkt neben mir.

      »Du, misch dich da nicht ein«, entgegnete Madame Puech, ohne sich deshalb um mich zu kümmern.

      Sie war vom Bahnhof an zusammen mit einer Frau ihres Alters und Ranges gelaufen, die wie sie in einen halblangen dunklen Mantel gehüllt war. Sie trat ein wenig auf der Stelle, als sie mein Unwohlsein bemerkte, machte jedoch keine Anstalten, mir zu Hilfe zu kommen, und ich konnte ihr nicht böse sein: Jeder an ihrer Stelle hätte sich dieses Schmutzfinks geschämt, der die Leute verjagen würde und vielleicht völlig unfähig war, eine Faulenzerin, eine Diebin, wer weiß, die vielleicht eher begabt dafür war, ihre Hand in die Kasse zu stecken, als Brot einzuwickeln und die Kunden freundlich zu bedienen. Ich verstand ihre Worte nicht, aber ihre verstohlenen Blicke und ungeduldigen Gesten bedurften keiner Übersetzung.

      Es gelang mir, wieder aufzustehen, zu ihr zu gehen, und als ich sie eingeholt hatte, sah ich durch das Geäst, das vom Flussufer aufragte, die lange hellgraue Stadtmauer. Es war dasselbe leicht rosafarbene Hellgrau wie bei dem Felsen am Engpass, der Schutzmauer am Fluss, dem Brückenbogen unterhalb des Bahnhofs. Eine lange grau-rosa Mauer, von ihrem Schieferdach durch den schwarzen Streifen einer Galerie förmlich getrennt, von zwei Türmchen flankiert und ungefähr in der Mitte von einem Tor durchbrochen, dessen stark ausgearbeitete Details die schreckliche Nüchternheit des Ganzen noch betonten.

      Mit jedem Schritt wurde das Bauwerk größer und nahm einen immer umfangreicheren Teil meines Blickfeldes ein, und im selben Maß wuchs meine Furcht. Als ein Auto über eine der Steinbrücken fuhr, fiel sein Scheinwerferlicht für kurze Zeit auf das Mauerwerk. Dein neues Gefängnis, sagte ich mir, als das Licht verschwand, von dem dunklen Loch des Tors verschluckt. Ich schaute noch eingehender hin. Die Mauer kam mir gigantisch vor, das Tor winzig klein, der Abgrund am Fuß der Bastion von einer unglaublichen Tiefe.

      »Der Fluss Cady«, sagte Madame Puech und wandte sich mir ein wenig zu.

      Ich folgte ihr in das Dunkel des Tores und sagte mir, dass ich nun von einem Lager in das nächste kam, das noch furchterregender war als das erste und dessen Türen sich augenblicklich hinter mir schließen würden. Wir befanden uns direkt an der Stadtmauer; ich erriet im Halbdunkel der hereinbrechenden Nacht die Einzelheiten des Mauerwerks und wurde immer mehr von einer dumpfen Angst erfüllt.

      »Versuch, dich zu benehmen«, murmelte sie, als wollte sie meine Sorgen bestätigen.

      Es war das erste Mal, dass ich in eine solche Festung kam, und ich fragte mich, ob sich der Zug von Perpignan nicht in der Zeit zurückbewegt hatte, um uns am Tor zu einer anderen Welt abzusetzen. Was war das für eine Stadtmauer? Fand das Leben nur innerhalb dieser Mauern statt? Aber die Menschen mussten doch auf ihre Felder. Wo brachten sie ihre Tiere und ihre Ernte unter? Fragen stürzten auf mich ein, aber ich hätte mich nie getraut, sie Madame Puech zu stellen. Denn ich wollte nicht dumm wirken und auch nicht die Bedrängnis vergrößern, in der sie sich offensichtlich seit dem Verlassen des Bahnhofs befand und die ich mir eigentlich nicht erklären konnte. Hatte ich einen Fehler begangen, ohne es zu merken? War sie, als sie mich während der Zugfahrt beobachtete, zu der Ansicht gekommen, dass ich nicht die von ihr erhofften Qualitäten besaß?

      »Die Porte de France«, sagte sie, als wir in diesen Tunnel hineingingen, der auf mich wie das Maul eines Drachens wirkte.

      »Die Porte de France«, wiederholte ich und betrachtete die bedrohlichen Spitzen des Fallgitters, die riesigen Glieder der Kette und die großen Holzräder des Laufwerks.

      Hinter dem Tor lag ein Platz, in seiner Verlängerung eine Straße und eine weitere rechterhand ganz am Ende des Platzes. In diese Richtung wendete sich Madame Puech. Sie ging plötzlich sehr schnell und erwiderte kaum den Gruß der Leute. Es wurde immer dunkler, die Fenster in den Stockwerken der Häuser wurden erleuchtet, eine Frau verließ mit einem Baby auf dem Arm ihr Haus, schloss die Fensterläden und summte dabei unaufhaltsam vor sich hin. Madame Puech bog in die Straße am Ende des Platzes ein, stieß eine Glastür mit dem Ladenschild der Bäckerei auf, und ich begriff, dass wir angekommen waren.

      »Ist alles bereit, Arlette?«, wandte sie sich ohne Begrüßung an die Person hinter dem Ladentisch.

      »Es ist alles bereit, Madame. Wir haben zwei Kessel, die zusätzlich erhitzt werden können, für alle Fälle.«

      Arlette gab einem kleinen Mädchen das Wechselgeld heraus. Dann waren noch zwei ältere Männer im Laden, in schwarzen Cordhosen und dunklen Jacken. Der kleinere von ihnen hatte eine Wollmütze auf dem Kopf. Sie drehten sich zu uns um und betrachteten mich schweigend, wie man etwas Seltsames anschaut. Auch im Zug und auf dem Weg zum Bahnhof hatten mich die Menschen gemustert, jedoch flüchtig und wie im Vorbeigehen. Seit wir die Porte de France durchschritten hatten, war es anders: Die Blicke richteten sich gezielt auf mich, musterten mich von oben bis unten und wanderten dann zu Madame Puech, als forderten sie von ihr Rechenschaft. Wer war diese Fremde, dieses schmutzige Wesen, das ihr wie ein Schatten folgte? War es eine gute Idee, ein Mädchen, dessen Eltern keiner kannte, in die eigenen Mauern hereinzulassen? Ich sah mich mit ihren Blicken und schämte mich. Schämte mich meiner fleckigen Kleider, meines zerlöcherten Mantels. Schämte mich meiner nackten Füße in meinen zerschlissenen Schuhen.

      Ich verstand den Sinn des Gesprächs mit Arlette erst, als ich Madame Puech auf den Fersen in das folgte, was die Backstube sein musste. An der Wand entlang standen Arbeitstische bedeckt mit Zinkplatten, ein Backtrog und ganz hinten Jutesäcke. All das war von weißem Staub bedeckt. In der Mitte des Raumes stand ein großer, dampfender Holzzuber auf dem Boden, ein Badehandtuch lag auf einem Stuhl, und über der Lehne hingen saubere Kleider.

      »Komm!«, sagte sie zu mir und zog ihren Mantel aus. Sie schnürte eine große Schürze, die an einem Haken gehangen hatte, um ihre Hüften und krempelte die Ärmel ihrer Bluse bis zu den Ellenbogen hoch. Dann beugte sie sich über den Zuber und griff nach dem Schwamm darin.

      »Nun!«, wandte sie sich noch einmal an mich und drehte sich dabei zu mir um.

      Eine angenehme Wärme erfüllte die Backstube, und die Aussicht, mich zu waschen und saubere Kleider anzuziehen, entzückte mich. Es würde seit meiner Flucht aus Tarragona vor zehn Monaten das erste Bad sein. Doch es gab da einen Haken: Ich musste mich vor einer Fremden ausziehen, in einem Raum, den Arlette oder sonst irgendjemand jeden Moment betreten konnte.

      Madame Puech war meinem Blick gefolgt. Sie zuckte mit den Schultern und ging, um die zwei Riegel an der Tür zum Laden hin zu verschließen und dann die an der Tür


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