Das Mädchen und die Nachtigall. Henri Gourdin

Das Mädchen und die Nachtigall - Henri Gourdin


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Mädchen küssten und umarmten, vor allem nicht in der Kirche, doch ich war zu allem bereit und entschlossen, mich von nun an über nichts mehr zu wundern.

      Sie wollten mehr über meine Talente wissen, aber ich wich ihren Fragen aus. Der Unterricht durch meinen Vater, mein erstes Instrument, das Konservatorium … nein, ich war noch nicht bereit, an diese Erinnerungen zu rühren. Der Krieg hatte die musikalische Seite meines Lebens auf brutale Weise verschüttet, und ich zwang mich von nun an, sie umzublättern. Ich musste mich anderswo umsehen, mir neue Freunde suchen, andere Motivationen, andere Interessen, die sich von den vorangegangenen so stark wie möglich unterschieden. Das war die einzige Möglichkeit, nicht verrückt zu werden. Es stellte für mich eine Frage von Leben und Tod dar. Wahrscheinlich spürten sie es, denn sie bedrängten mich nicht. Der Pfarrer trieb uns aus der Sakristei, und auf dem Rückweg sprachen Agnès und ich weder von Musik noch vom Chor.

      »Monsieur Puech …«, begann ich, als wir uns wieder der Bäckerei näherten.

      »Was ist mit Monsieur Puech?«

      »Kennst du ihn näher?«

      »Beunruhigt er dich?«

      Andere hätten mich beschwichtigt, mit den Schultern gezuckt und die Frage vermieden. Nicht so Agnès. Sie kam im Weitergehen ganz dicht an mich heran und legte eine Hand auf meine Schulter, als wollte sie meine Befürchtungen bestätigen.

      »Martha kommt zurück. Sie wird dich beschützen.«

      »Martha?«

      »Die Mutter von Félicie. Sie wohnen bei ihr, wusstest du das nicht? Émile hat nach dem Tod von Marthas Mann, dem Vater von Félicie, dessen Bäckerei übernommen, aber ihr gehört das Haus. Und sie wohnt natürlich noch dort. Im Übrigen wirst du sehen, dass sie den Haushalt führt.«

      Madame Puech hatte mir Anweisungen gegeben. Die Tür des Ladens würde verschlossen sein, ich könnte durch die Hintertür hereinkommen, die ich sorgfältig zuschließen sollte, ehe ich in die Wohnung hinaufginge. Ich schob vorsichtig die Tür auf, glitt in den Raum … und konnte einen überraschten Aufschrei nicht zurückhalten. Eine Gestalt stand regungslos da, zwei Schritte entfernt, im Dunkel der Backstube.

      »Gehört es sich, um diese Uhrzeit heimzukommen?«, vernahm ich eine Stimme.

      »Alles in Ordnung?«, erkundigte sich Agnès durch die offene Tür.

      »Alles in Ordnung!«, antwortete Madame Puech schroff.

      Sie ging zur Tür und schob die Riegel auf eine derart wütende Weise vor, dass ich es mir nicht erklären konnte.

      »Du musst leise sein«, sagte sie noch und stieß mich grob zur Backstube hin.

      Priester Raynal

      Am nächsten Morgen brauchte ich eine ganze Weile, um wach zu werden, und suchte meine gewohnten Anhaltspunkte: das helle Kontrolllicht über der Barackentür, das Schnarchen der Mädchen, Teresas schlafenden Körper. Stattdessen ein Eisenbett, eine Matratze, nassgeschwitzte Betttücher, das Murmeln eines Flusses … Ich stand auf, tastete mich an das Fenster, stieß den Laden auf, und kühle Nachtluft hüllte mich ein. Doch einen Moment später wurde die Tür hinter mir geöffnet, und ein grelles Licht erhellte plötzlich den Raum.

      »Was treibst du?«, fragte die Stimme von Madame Puech. »Kannst du nicht wie alle anderen schlafen?«

      Ein wenig später oder vielleicht auch sehr viel später fuhr ich aus dem Tiefschlaf hoch.

      »Es ist Zeit!«, sagte dieselbe Stimme mit demselben harten, entschiedenen Ton.

      Die Glühbirne an der Decke blendete mich erneut. Ich setzte mich am Rand der Matratze auf und versuchte vergeblich, den Raum, die Wände und Möbel zu identifizieren. Die Schritte auf der Treppe wurden leiser, und ich fand langsam den Faden meiner Geschichte wieder. Ich war bei einem Monsieur und einer Madame Puech in einer Stadtfestung namens Villefranche untergebracht. Mein Blick blieb am Bettgitter, an den Schubladen, der Kommode hängen … Dein Bett! Deine Kommode!, sagte ich mir. Aber nichts, nicht einmal der Komfort eines hübschen Zimmers konnte die Leere füllen, die der Tod meiner Eltern und Angehörigen, die der Tod Teresas in meinem Dasein aufgerissen hatte.

      »Nun? Wir warten auf dich! Was treibst du?«, rief die Stimme von der Treppe her.

      Es gelang mir aufzustehen, indem ich meinen ganzen Willen aufbrachte. Ich zog das weiße Unterkleid und das hellblaue Kleid an, die über der Stuhllehne hingen. Weihnachten! Es war Weihnachten, erinnerte ich mich plötzlich. Es war Weihnachten und ich würde weder meine Eltern noch meine Schwester noch irgendjemanden sehen, den ich kannte. In diesem Augenblick ertönte durch das Fenster eine Glocke. Eins, zwei, drei … acht Uhr! Es läutete acht Uhr vom Glockenturm meines neuen Dorfes. Wie früher in Tarragona, doch da hörte die Ähnlichkeit schon auf: Ich war nicht zu Hause, und meine Gastgeber bemühten sich stets, mich daran zu erinnern.

      »Da bist du ja«, sagte Madame Puech, als sie mich kommen sah.

      Sie fegte die Küche auf eine wütende Weise, die ich auf mein spätes Aufstehen bezog. Sicher eine Art, mir zu zeigen, dass es meine Arbeit war und dass sie seit geraumer Zeit auf mich wartete.

      »Beeil dich lieber mit dem Essen«, sagte sie mit einer ungeduldigen Handbewegung, als ich mich anschickte, ihr den Besen abzunehmen. »Weißt du, wie spät es ist?«

      Die Stühle standen umgedreht auf dem Tisch, wie in einem Café, das geschlossen war, und verbargen eine weiße Schale, einen Korb mit Brotscheiben und ein Marmeladenglas. Ich nahm die Schale und füllte sie mit Kaffee aus der Eisenkanne, die auf dem Ofen in der Ecke warmgehalten wurde. Marmelade, Kaffee, große, frische Brotscheiben … ich konnte mich gerade noch daran erinnern, dass ich früher in einer kleinen Stadt Kataloniens mit Namen Tarragona nach dem Aufstehen einen Frühstückstisch dieser Art vorgefunden hatte … nur dass natürlich die Stühle auf dem Boden standen. Aber der Kaffee, das frische Brot und die Marmelade führten meine Gedanken zu Teresa zurück und widerten mich plötzlich an.

      »Worauf wartest du?«

      »Ich habe keinen Hunger«, sagte ich und schob die dampfende Schale weg.

      »Keinen Hunger? Was ist los? Du musst essen, Mädchen. Essen, zu Kräften kommen, arbeiten, das ist dein Programm. Was glaubst du? Dass wir dich ernähren, damit du den Tag verträumen kannst?«

      »Nein, Madame«, antwortete ich und führte die Schale an meine Lippen.

      »Los! Trink das und geh Arlette helfen. Sie wartet schon eine Ewigkeit auf dich, das sag ich dir. An einem Tag wie heute …«

      Daraufhin fuhr sie mit dem Fegen fort, und während ich versuchte, eine Scheibe dunkles Brot zu essen, fragte ich mich, ob ich bei dem Tausch von Argelès gegen Villefranche wirklich gewonnen hatte.

      »Nun aber los!«, forderte sie mich noch einmal auf, als ich meine Schale in das Spülbecken gestellt hatte.

      »Arlette wartet auf dich, hast du das nicht verstanden?«

      Die Kunden drängten sich in dem engen Ladenraum, weitere warteten auf dem Bürgersteig, und Arlette führte mechanisch die Aufträge aus, die alle an sie richteten. Sie griff nach einem Brot auf den Regalen, warf es auf die große Schale der Waage und glich diese je nach Bestellung mit den Gewichten auf der kleinen Schale aus oder auf der großen mit Brotecken aus einem Sack. Wenn die Waage im Gleichgewicht war, legte sie die Ware auf den Ladentisch, nahm das Geld entgegen, und der Nächste war dran. Nicht ein Wort, nicht ein Dankeschön. Gerade mal ein »Guten Tag« und ein »Auf Wiedersehen«. Was für ein Unterschied zu dem Lachen, den Kommentaren, dem Austausch von guten und schlechten Neuigkeiten in den Bäckereien von Tarragona! War das eine Besonderheit des französischen Handels? Aber nein! Ich bemerkte es, als ich sie an der Waage ablöste und die Leute auf mein Lächeln reagierten, mich ermutigten, sich nach mir erkundigten. Wie geht’s? Woher kommen Sie? Wie war es dort? Sicher hatten sie mich bei der Mitternachtsmesse gesehen und warteten auf eine Gelegenheit, mich kennenzulernen.

      Alles lief gut, und ich arbeitete mich in meiner


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