Das Mädchen und die Nachtigall. Henri Gourdin

Das Mädchen und die Nachtigall - Henri Gourdin


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als ich meine Unterwäsche – das, was davon übrig war – auszog, doch Madame Puech hatte bereits die Tür des Ofens geöffnet und warf meine Lumpen nach und nach hinein.

      Plötzlich erleuchtete ein wilder Schein die Wände. Ich wandte den Kopf und erstarrte: Sie hatte meinen Koffer ergriffen und schickte sich an, ihn ins Feuer zu werfen.

      »Nein!«, schrie ich.

      Mit einem Satz war ich am Ofen, riss den bereits brennenden Koffer aus Madame Puechs Händen und tauchte ihn in den Zuber. Weißer Rauch stieg aus dem Dampf hoch, die Flammen flackerten an die Decke, und Madame Puech stieß einen überraschten Schrei aus.

      »Was tust du? Hör auf, du Unglückliche! Du wirst das Haus in Brand stecken!«

      Das kümmerte mich nicht. Sie konnte schreien, so viel sie wollte, dass das ganze Viertel zusammenlief, es war mir egal. Ich warf den Koffer auf den Boden, sobald die Flammen erloschen waren, und öffnete ihn, um die einzigen Reliquien meiner Kindheit herauszuholen: das Gebetbuch von Mama und meine Perlenkette, eine Erinnerung an mein erstes Konzert, in der hölzernen Schatulle, die Papa extra für diesen Anlass angefertigt hatte. Sie war von den Flammen geschwärzt, das Buch und die Kette aber unversehrt. Ich nahm mir die Zeit, sie auf einen in der Nähe stehenden Tisch zu legen, dann ergriff ich das, was von dem Koffer übrig war, und warf es selber in die Flammen.

      Madame Puech beobachtete mein Tun mit starrem Blick, wie jemand, der seinen Augen nicht traut. Regungslos, mit leicht geöffnetem Mund und zitternden Lippen. Doch plötzlich kam sie wieder zu sich und zeigte mit einer Handbewegung auf die Kleidungsstücke über der Stuhllehne.

      »Du ziehst bei dem Tausch nicht den Kürzeren.«

      Ein Kleid, wie ich es mir schon immer gewünscht hatte: hellblau, mit einem Kragen und Manschetten aus weißer Baumwolle. Und dann noch ein Unterkleid mit Spitzenbordüre, weiße Kniestrümpfe und eine hübsche Mütze.

      »Das müsste dir passen«, sagte sie, die Hände auf den Hüften.

      Als ich mich nicht entschließen konnte, mein altes Unterkleid auszuziehen, kam sie zu mir, griff nach dem unteren Saum und zog es mir mit einem Ruck über die Schultern. Ich stieß einen Schrei aus und kreuzte die Arme über meiner Brust.

      »Los, denkst du, ich habe sonst nichts zu tun?«

      Ich sah ein, dass Widerstand zu nichts führen würde, zog meine letzten Lumpen aus und stieg über den Rand in den Holzzuber.

      Weihnachten

      Ein Duft von Weihnachten hatte auf unserer Fahrt die Luft in den Bahnhöfen erfüllt, und als ich durch die Bäckerei lief, hatte ich Zeit, auf dem Fenstersims des Schaufensters eine kleine Krippe zu bemerken, die mit falschem Schnee gepudert war. Es würde einen Weihnachtsabend und eine Mitternachtsmesse geben. Darum kreisten meine Gedanken, als ich Madame Puech in den leeren Verkaufsraum folgte, der von dem Licht, das durch eine kleine Tür links vom Ladentisch fiel, nur schwach erleuchtet wurde. Hinter dieser Tür führte eine Treppe in den ersten Stock, in eine große Küche, in deren Mitte ein massiver Tisch mit einer Wachstuchdecke stand. Rechts der Eingangstür befand sich an der Wand zwischen den beiden Fenstern ein Buffet, gegenüber ein gusseiserner Herd mit seinem Zinkrohr, auf der linken Seite ein Sofa und in der hinteren Ecke ein Spülbecken aus Stein. Die weiteren Türen führten sicher in andere Zimmer … Das ist von nun an deine Welt, sagte ich mir.

      Die Lippenbewegungen, die ich seit unserer Abreise aus Argelès bei Madame Puech beobachtet und ihrer Beunruhigung wegen der Reise zugeschrieben hatte, diese Bewegungen hatten sich, seit wir bei ihr zu Hause waren, in eine Art Murmeln verwandelt und wurden von einem Schulterzucken begleitet, das ihre Umgebung vielleicht als eine ihr eigene Art nicht mehr wahrnahm. Ich bemerkte es wieder, als sie zum Küchenschrank ging. Sie holte eine mit Mohnblumen bestickte Leinentischdecke heraus und forderte mich auf, den Tisch für vier Personen zu decken: sie selbst und ihren Mann, ihren Sohn Charles und seine Verlobte Agnès. Arlette und ich würden in der Küche essen, zwischen den einzelnen Gängen.

      »Charles? Sie haben mir doch gesagt …«

      »Was habe ich gesagt?«

      »Dass er mit der Armee fortgegangen ist.«

      »Ja, er ist weg, natürlich ist er fort«, erwiderte sie verwirrt, »aber man weiß ja nie.«

      Dann fing sie sich wieder: »Als ob ich mich dir gegenüber rechtfertigen müsste! Tu, was man dir sagt, arbeite, statt tausend Fragen zu stellen. Und lass dir das ein für alle Mal gesagt sein: Misch dich nicht in unsere Angelegenheiten ein! Verstehst du mich? Das gilt auch für dich«, wandte sie sich an Arlette, die am Spülbecken beschäftigt war.

      Sie stieß plötzlich eine der Türen auf, die von der Küche wegführten, und drehte an einem Schalter. Licht fiel von einem fünf- oder vielleicht auch sechsarmigen Leuchter in ein Esszimmer, dessen Mobiliar mich sprachlos machte. Es waren nur ein Tisch und sechs Stühle, eine Kommode und ein Buffet, die aber wie neu aussahen und in einem mir unbekannten Stil gearbeitet waren. Diese Pracht erinnerte mich an ein Möbelgeschäft in Tarragona, das ich eines Tages mit meiner Mutter betreten hatte und dessen Duft nach Wachs, dessen spiegelnder Glanz und goldene Beschläge einen lang anhaltenden Eindruck von außergewöhnlichem Komfort und unglaublicher Erhabenheit bei mir hinterließen.

      »Und, worauf wartest du?«

      Ich stand wie angewurzelt auf der Schwelle zu diesem Zimmer, mit der Tischdecke über dem Arm, und versuchte mich davon zu überzeugen, dass diese Möbel ein wenig mir gehörten, dass ich sie so lange bewundern könnte, wie Madame Puech mich in ihrem Dienst haben wollte, sogar schon sehr bald, wenn ich auftragen würde.

      »Soll sich die Arbeit etwa von alleine machen?«

      Allerdings musste Madame Puech mich wollen, sagte ich mir. Und ich gab mir noch größere Mühe, mir den richtigen Platz des Bestecks, des Geschirrs und der schmiedeeisernen Kerzenhalter auf dem Tisch einzuprägen …

      Woher ich die Kraft nahm, den Tisch zu decken, kann ich mir nicht erklären. Die Übelkeit kam in Wellen; die Gerüche, die aus den Töpfen aufstiegen, drehten mir den Magen um. Ich konnte mich nur aufgrund meines Willens, einen guten Eindruck zu machen, aufrecht halten. Gewissermaßen ein Überlebensreflex. Zu meiner eigenen Überraschung gelang es mir, und ich führte noch weitere kleinere Arbeiten aus, die Arlette mir auftrug.

      Ich saß am Küchentisch und schälte Kartoffeln, als Schritte auf der Treppe zu hören waren, die zu den Schlafzimmern führen musste. Zwei abgetragene Pantoffeln, eine braune Cordhose, eine Jacke in demselben Farbton mit Flicken an den Ellenbogen: In dieser Reihenfolge nahm ich Monsieur Puech wahr. Ein kleiner untersetzter Mann mit einem argwöhnischen Gesichtsausdruck. Er blieb auf der letzten Stufe stehen und schaute mich lange an, mit einem Blick, wie unsere Nachbarn in Tarragona mich angesehen hatten, als ich auf das Gymnasium ging und mein Po und meine Brüste sich entwickelt hatten. Eine ganze Weile taxierte er mich auf diese Weise.

      »So ist das also?«, sagte er schließlich mit einer Art höhnischem Grinsen.

      »So ist es, wie Sie sagen«, erwiderte Arlette, ohne den Blick von ihrer Arbeit zu heben.

      »Hat dich jemand nach deiner Meinung gefragt?«, brummte er.

      Schließlich stieg er die letzte Stufe hinunter und wandte sich dabei schwankend um, was mir zeigte, wie gebrechlich er war. Er nahm die Zeitung, ging hinkend auf mich zu und setzte sich am Tischende ganz dicht neben mich. Er saß da und schaute mich an, ich spürte seinen Blick auf mir, auf meinem von Unterernährung gezeichneten Gesicht, auf meinen kranken Augen, meinen Musikerhänden, die so gut wie zu nichts nutze waren. Er sagte nichts, blieb völlig ausdruckslos, versenkte sich nur in die Zeitung, doch ohne zu wissen warum war ich davon überzeugt, dass er sein Urteil über mich gefällt hatte, gleich auf den ersten Blick. Und ich verlor das Bewusstsein.

      Als ich meine Augen wieder aufgeschlagen hatte, brauchte ich eine ganze Weile, um den Faden wiederzufinden, der mich mit den Dingen und Geräuschen um mich herum verband. Ich war weder in unserem Haus in Tarragona noch in unserer Baracke im Flüchtlingslager. Schließlich kamen


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