Das Mädchen und die Nachtigall. Henri Gourdin
kamen wir auf die Angelegenheiten des Lebens zu sprechen. Eine Art Wunder zu jener Zeit. Niemand verlor ein Wort darüber, das Thema war tabu. Am Morgen der Hochzeit nahm die Mutter ihre Tochter beiseite und sagte ihr, dass sie sich über nichts wundern solle. Der Vater tat dasselbe mit dem zukünftigen Ehemann, und das war alles. Ich hatte dieses Privileg, das mich lange Zeit von den jungen Mädchen meines Alters unterschied, in die Geheimnisse des Kinderkriegens von einer Frau eingeweiht worden zu sein, die nicht nur aus Sachkenntnis darüber sprach, sondern mit einer Art Staunen, das ihre alten Pupillen aufleuchten ließ.
Abgesehen von den Geheimnissen des Kinderkriegens weihte mich diese Zeit der Erholung auch ins Französische ein. In die Sprache und die Literatur. Ein bisschen durch die Unterhaltungen mit Agnès, ihren Eltern und dem Priester, vor allem aber durch die Bücher. Zunächst Marthas Bücher. Liebesromane: Le mariage de Mademoiselle Privat, La fiancée de Paul, La mariée était en rose … Sehr einfache Geschichten: Ein junges Mädchen läuft von zu Hause weg zu ihrem Geliebten, sie heiraten und haben viele Kinder; ein Waisenkind wird von seiner Stiefmutter geschlagen, dann in einem Schloss aufgenommen und heiratet am Ende den Sohn des Schlossherrn. Es waren auch Geschichten mit erzieherischem Aspekt darunter. In Le tour de la France par deux enfants lässt G. Bruno zwei kleine Brüder, die der Tod ihrer Eltern auf die Straße geworfen hat, das Land mit staunenden Augen durchstreifen und alles aufschreiben, was sie sehen. Doch bald lieh mir Agnès die Romane von Giono, die mich sehr fesselten. Jean le bleu – Jean der Träumer, Colline – Der Hügel, Un de baumugnes – Der Berg der Stummen … sie hatte sie alle gelesen, und ich las sie auch. Ebenso die Manifeste gegen den Krieg: Le grand troupeau – Die große Herde und Refus d’obéissance – Die Verweigerung des Gehorsams. Er hatte die jungen Leute angestiftet, ihren Einberufungsbescheid zurückzuschicken, und war deswegen im Gefängnis gewesen. In der allgemeinen Unruhe durch die Kriegserklärung blieb dies nahezu unbeachtet, doch Agnès wusste es. Sie wusste alles über ihn: über seine antimilitaristischen Erklärungen, die Liste seiner Werke, die wichtigsten Stationen seiner Biografie. Sie rezitierte auswendig ganze Passagen aus Le chant du monde – Das Lied der Welt, Le grand troupeau oder Jean le bleu: »Die Nacht hatte sanft ihren grünen Leib auf das reglose Geriesel der Hügelkette gesenkt, sie kratzte müde und gereizt wie ein großer Vogel mit ihren Krallen noch ein wenig an der Abendröte, und dann spreitete sie ihre Schwingen über den weiten Himmel aus, bedeckte ihn ganz und lullte ihn mit dem sanften Fächeln ihres Gefieders in Schlaf.« Nach all diesen Jahren erinnere ich mich noch genau daran.
Der Winter schritt voran, die Tage wurden länger und mit ihnen die Zeit, die ich in meinem Zimmer verbrachte. Natürlich mit Lesen. Die Worte ›Schlafzimmer‹ und ›Buch‹ waren unauflöslich miteinander verbunden. Hätte ich in der Küche lesen können? Nein, unmöglich. Nur wenn Martha und ich uns ganz allein dort befanden, aber das war sehr selten. Meistens waren viele Leute da, und dann kam es nicht infrage, sich in ein Buch zu vertiefen, denn was hätten die Leute gedacht? Man musste reden, zuhören, sich wundern, einen Standpunkt darlegen, wiederholen, was man seit dem Morgen schon drei- oder viermal gesagt hatte. Also las ich in meinem Zimmer. Zunächst abends vor dem Einschlafen und morgens nach dem Aufwachen beim Schein meiner Nachttischlampe. Dann immer längere Zeit, und als Martha begriffen hatte, dass ich es brauchte, schließlich Stunde um Stunde und ganze Nachmittage lang. Nicht so lange am Vormittag, weil Martha dann da war und ich mich in ihrer Gesellschaft wohlfühlte, in der Wärme und Sicherheit ihrer Fittiche. Ihrer mütterlichen Fittiche? Nun ja. Wenn es die Rolle der Mutter ist, das Kind vor der Härte und Dummheit der Welt zu beschützen, ja, dann war Martha eine Mutter für mich. Sie beobachtete mich aus dem Augenwinkel, fragte sich, was gut für mich war, für meine Gesundheit, für meinen Trost, und wenn sie verstand, dass es das Alleinsein und Lesen in meinem Zimmer war, machte sie mir keine Vorwürfe, sondern setzte es sogar gegen ihre Tochter und ihren Schwiegersohn und alle durch, die etwas dagegen sagen wollten. Sie bat nur darum, dass ich meine Tür offen ließ. Die Tür offen lassen? Etwas Besseres konnte mir nicht passieren. Denn es bedeutete, zu den Düften und Geräuschen des Hauses Zugang zu haben.
Dieses Zimmer wurde meine Welt, vor allem wenn ich Giono einlud. Es wurde mein ganz eigener Winkel, der weiche Kokon, in dem ich nach diesen Monaten, fast schon Jahren des Hin- und Hergestoßenwerdens wieder neu auflebte. War es nicht gemütlich, ein Zimmer unter dem Dach zu haben, mitten im Winter, am Fuße des Canigou? Aber ja. Die Wärme des Ofens stieg über die Mauern, die Treppe, den Kamin zu mir herauf, gemeinsam mit dem guten Duft nach Brot, der Appetit machte und daran erinnerte, dass es einem an nichts fehlte, dass Hunger und Kälte nur unschöne Erinnerungen waren.
Im Grunde habe ich mit Jean Giono Französisch gelernt. Mit Balzac sicher auch, und mit Flaubert, Baudelaire, Mallarmé … aber vor allem mit Giono. Giono hat mich wiederaufleben lassen. Er hat mich mit der französischen Sprache bekannt gemacht, und ich habe mich in sie verliebt. Unsterblich. Ich hörte Madame Puech nicht mehr, die mich zu den Mahlzeiten rief, trotz der offenen Tür, und wenn ich mich endlich an den Tisch setzte, wusste ich nicht, was ich aß. Ich hatte nur eines im Sinn: wieder nach oben zu gehen und die Hohlwege wiederzufinden, die Olivenhaine und Quellen in der Umgebung von Manosque. In Wahrheit verließ ich sie gar nicht, ich verbrachte drei Tage und zwei Nächte ohne Unterbrechung mit Jean le bleu und eine Woche mit Antonio. Eine Leidenschaft. Für Jean le bleu, Antonio und die anderen, für die Provence, für die von Düften erfüllte Heide, aber vor allem für die Musik der Sprache: »Er hatte den ganzen Tag beobachtet, wie der Fluss im Sonnenschein über die Muscheln strömte – diese weißen Pferdchen, die im Wasser galoppierten, mit blinkenden Schaumspritzern an den Hufen – und weiter oben den grauen Wasserrücken, am Ausgang der Schluchten, der sich hoch aufbäumte im Zorn über die Enge des eben verlassenen Felsenkorridors …« Man muss wissen, dass es außer der gesungenen Messe am Sonntag keine Musik in Villefranche gab. Kein Konzert, keinen Liederabend. Natürlich keine Schallplatte und keinen Plattenspieler. Und ich hatte meine ganze Kindheit und Jugend mit Musik verbracht. Sie war für mich so unentbehrlich wie das Wasser, das man trinkt, wie die Luft, die man atmet. Das Leben hatte mich von ihr entfernt und mir seit meiner Flucht aus Barcelona im Jahr 1938 nicht einmal die Zeit gegeben, daran zu denken. Nun aber lag der Kampf ums Überleben hinter mir, und ich spürte, wie sehr sie mir fehlte. Also ersetzten mir in der ersten Zeit meines Aufenthalts in Villefranche die Harmonien der Sprache die Musik.
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