Das Mädchen und die Nachtigall. Henri Gourdin
würden antworten«, entgegnete Monsieur Levêque, ohne den Blick von seinem Kartenspiel zu heben.
»Du würdest antworten? Du willst doch nicht einmal, dass man weiß, dass du Bürgermeister bist.«
»Nicht Bürgermeister, Agnès, wie oft muss man es dir noch wiederholen? Ich bin nicht Bürgermeister, nur Präsident der Sonderdelegation.«
»Ja, gut …«
»Das ist nicht das Gleiche. Ganz und gar nicht.«
In diesem Moment hob Madame Levêque den Blick von ihrem Strickzeug und berichtete mir in sehr einfachem Französisch, wie ihr Mann zum Stellvertreter des kommunistischen Bürgermeisters von Villefranche ernannt worden war. Das war für mich keine Überraschung. Die Ereignisse in Spanien hatten uns wider Willen politisiert. Die deutschen Sturzkampfflugzeuge und die Kanonen der Italiener hatten uns gelehrt, dass der Ausgang des Krieges von den internationalen geheimen Machenschaften abhing, aber ebenso – oder vielleicht sogar noch mehr – von den Auseinandersetzungen vor Ort. Und in Argelès waren wir über das Tagesgeschehen informiert, durch unsere Gewerkschaftskameraden insbesondere über die aktuelle französische Politik.
Die Unterzeichnung des deutsch-sowjetischen Nichtangriffspakts im August 1939 hatte leidenschaftliche Diskussionen ausgelöst, und wir wussten, dass die französische Regierung Maßnahmen ergriffen hatte, um die Kommunisten und die Sympathisanten der spanischen Republik auszuschließen und durch Konservative zu ersetzen, doch all das schien sehr weit weg und blieb für uns quasi theoretisch. Die Geschichte der Absetzung des Bürgermeisters von Villefranche zeigte mir die praktische Seite dieser Frage.
»Villefranche ist eine rote Hochburg«, erklärte Madame Levêque, da ihr mein Interesse aufgefallen war. »Das freut meinen Mann nicht wirklich«, sprach sie mit leicht provozierendem Lächeln weiter, »aber es ist so.«
»Ich dachte, in Frankreich wären die Leute auf dem Land konservativ.«
»Ah! Ich sehe, dass Mademoiselle gut informiert ist«, entgegnete sie und strickte eine weitere Masche. »Nun, haben Sie sich einmal gefragt, liebe Marie, ob wir hier wirklich auf dem Land sind?«
»Villefranche ist ein Dorf, oder etwa nicht?«
»Ein Dorf sicher, wenn man die Einwohnerzahl bedenkt. Aber wie vielen Kühen und Schafen sind Sie seit Ihrer Ankunft begegnet? Keinem einzigen Tier, stimmt’s? Wie vielen Bauern? Ich wette, nicht einem.«
»Was tun die Menschen dann? Wovon leben sie?«
»Eine berechtigte Frage. Außer den Geschäftsleuten, dem Lehrer und den Angestellten im Rathaus sind die Menschen in Villefranche Arbeiter.«
»Arbeiter?«
»Das wundert Sie? Oh, Sie werden in dem Ort keine Fabrik sehen, außer der Limonadenfabrik meines Mannes, aber es gibt das Elektrizitätswerk, die Eisenminen, die Gießerei, die …«
»Die Eisenbahngesellschaft«, fiel Agnès ein und warf durch den Dampf ihrer Schale einen verstohlenen Blick zu ihrem Vater hinüber. »Der erste Arbeitgeber des Kantons. Ein Nest von Gewerkschaftlern.«
»Sehen Sie den Bahnhof vor sich, wo Sie ausgestiegen sind, den Bahnhof von Fuilla?«, fiel Renée ein, als wollte sie einen Streit im Keim ersticken.
»Ja, wir haben ihn auch oben von der Befestigungsmauer aus gesehen.«
»Das ist ein wichtiger Bahnhof. Ein Knotenpunkt des Eisenbahnnetzes zwischen den Linien der Ebene und denen der Cerdagne. Von dort aus werden diese Linien gewartet und verwaltet, mit zweihundert Angestellten. Und wo wohnen sie und ihre Familien?«
»In Villefranche?«
»Ja. Das ist für sie am nächsten. Fuilla, Ria, Corneilla … das ist alles viel zu weit weg. Nun verstehen Sie wohl, dass die Arbeiter der Fabriken und der Eisenbahngesellschaft nicht gerade diejenigen sind, die rechts wählen werden.«
»Daher kommt die kommunistische Mehrheit?«
»Genau. Und daher die Absetzung des Bürgermeisters nach der Unterzeichnung des Nichtangriffspakts, versteht sich. Frankreich ist im Krieg mit Deutschland, Deutschland hat sich mit Russland verbündet. Wir werden nicht Leuten die Führung überlassen, die Kontakte und vielleicht sogar Beziehungen zum Feind haben.«
»Und was ist aus dem Bürgermeister geworden?«, fragte ich.
»Er war reif für das Gefängnis, oder das Arbeitslager«, antwortete René Levêque und sammelte seine Karten ein, »aber machen Sie sich um ihn keine Sorgen, die Gewerkschaft hat ihn ins Grüne gebracht, er soll bei einem kleinen Bahnhof weit abseits von allem leben und Kohl pflanzen.«
»Ich lass mich nicht davon abbringen«, sagte Agnès. »Bürgermeister oder Präsident, das ist das Gleiche, nur die Bezeichnung ist eine andere.«
»Der Bürgermeister ist gewählt worden, der Präsident amtlich bestimmt«, antwortete ihr Vater schlagfertig. »Wenn es nur das wäre …«
Die politische Situation von Villefranche stand in jenem Augenblick wirklich nicht im Mittelpunkt unserer Sorgen, doch sie hatten versucht, mir meine Befangenheit zu nehmen und mich so auf mein neues Leben vorzubereiten. Es war ihre Art und Weise, mich zu empfangen, und deshalb berührte es mich.
Anschließend machte es sich Agnès zur Aufgabe, mir von der Geschichte ihrer Eltern zu erzählen, in ihrer Gegenwart und folglich gewissermaßen unter ihrer Kontrolle. René Levêque war in Algerien in einem Dorf bei Mostaganem geboren. Seine Eltern besaßen ein Stück Land, von dem sie nur schwer leben konnten, und so drängten sie ihren Sohn in andere Bahnen. Also studierte er ein wenig, um ihnen zu gehorchen, und von einem Tag auf den anderen hatte er sich bei der Reitertruppe der Spahis verpflichtet. Offizier im Ersten Weltkrieg, dann Jahre des Hin und Her zwischen Marokko, wo er seine Männer rekrutierte, und seiner Kaserne in Perpignan. Dann kam Renée.
»An einem 14. Juli auf dem Ball von Prades«, führte Madame Levêque die Erzählung weiter. »1921. Wir haben sofort geheiratet, und Agnès wurde neun Monate später geboren.«
»Am 23. April 1922«, warf eines der Kinder voller Stolz auf sein Wissen ein.
»Auf der Krankenstation der Kaserne«, sagte Agnès seufzend. »Wie ein Bühnenauftritt …«
»Wie bitte? Wie ein Bühnenauftritt? Die Armee bot uns eine Unterkunft an, und wir konnten diese Annehmlichkeiten doch nicht ausschlagen. Im Übrigen war die Krankenstation sehr sauber. Und außerdem – worüber beklagst du dich? Du hast an jenem Tag sehr glücklich ausgesehen, und ich muss es ja wissen. Du wurdest nach Strich und Faden verwöhnt.«
Der Vater von Renée war ein Jahr später gestorben, und daraufhin hatte René gebeten, vorzeitig entlassen zu werden, um die Geschäfte zu übernehmen: das Café, die Abfüllfabrik, die Wohnung … Und Renée war sozusagen in die ›Startposition‹ zurückgekehrt, in die Wohnung ihrer Mutter, in deren Sessel, sogar in ihr Bett, Lichtjahre von einem Leben des Reisens in fremde Länder entfernt, wie sie es sich erträumt hatte. Doch sie hatte die Wahl ihres Mannes bereitwillig akzeptiert. Denn Monsieur Levêque gefiel es in Villefranche. Hier fühlte er sich in Sicherheit. Die Befestigungsmauer erinnerte ihn an die Mauern seiner Kaserne und gab ihm dasselbe Gefühl von Schutz.
»Deshalb hat er mich geheiratet«, bemerkte Madame Levêque lachend, »wegen der Mauern von Villefranche.«
»Das ist nun alles vorbei«, erwiderte ihr Mann, ohne sich von seinem Tisch fortzubewegen.
»Was heißt vorbei? Was willst du damit sagen? Wir sind da und Villefranche auch.«
»Du weißt sehr wohl, was ich damit sagen will. Möchtest du, dass ich dich daran erinnere, wo ich letzte Woche war?«
Das Klappern der Stricknadeln verstummte. Die kleine Hündin seufzte in die anhaltende Stille hinein.
»René ist Reservist«, sagte Madame Levêque schließlich und warf mir einen hilflosen Blick zu. »Sie haben ihn zu einem Manöver einberufen.«
»Ich kann euch nur sagen, das ist nicht gerade einfach, gleichzeitig noch ein Unternehmen