Das Mädchen und die Nachtigall. Henri Gourdin

Das Mädchen und die Nachtigall - Henri Gourdin


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Wollknäuel herum.

      »Und ich sage dir, dass es passieren wird, und zwar schneller, als wir denken. Wir sollten lieber die Augen offen halten.«

      »Werden Sie gehen?«

      »Natürlich werde ich gehen, was soll ich denn Ihrer Meinung nach sonst tun? In meinem Alter werde ich wieder durchwachte Nächte, Gewaltmärsche und Pausen inmitten von Schlamm durchmachen müssen. Tage und Monate lang. Von den Granaten und dem Pfeifen der Kugeln ganz zu schweigen.«

      »Und Sie, Marie?«, fragte Madame Levêque mit zugeschnürter Kehle. »Erzählen Sie uns ein wenig von sich, das bringt uns Abwechslung.«

      »Oh, das ist schnell erzählt. Ich bin in Tarragona geboren, habe dort meine Kindheit verbracht, und ohne den Staatsstreich der Nationalisten wäre ich noch immer dort.«

      »In Tarragona!«, wiederholte Monsieur Levêque mit eigenartiger Stimme. »Ihre … Ihre Eltern waren von dort?«

      »Papa, ja. Bei Mama ist es komplizierter. Ich glaube, sie ist wie Sie in Algerien geboren. Ihre Eltern hatten sich dort niedergelassen. Aber sie ist zurückgekommen, warum, weiß ich nicht genau. Sie hat nie darüber gesprochen.«

      »Sie hat nie darüber gesprochen?«

      »Darf ich dich daran erinnern«, fiel Agnès ihm unfreundlich ins Wort, »dass wir uns hier in einem Wohnzimmer befinden, in unserem Wohnzimmer, und nicht in einem Folterraum der 24. Kolonialtruppe?«

      Monsieur Levêque ließ es sich gesagt sein, aber seine Frau wollte mehr darüber wissen und brachte mich unsensibel, mit einer Frage nach der anderen, dazu, meine Leidensgeschichte zu erzählen. Ich fürchtete diese Rückkehr zu den schwierigen Momenten meines Lebens, doch in Wahrheit brachte es mir Erleichterung. Ich hatte das alles für mich behalten, ohne das Gewicht abzuschätzen, das dieses Schweigen meiner Seele auferlegte. Zu Beginn ließ ich mich ein wenig bitten, doch bald floss mein Bericht nur so dahin. Sie hörten mir alle zu, sogar die Kinder, und ich spürte, wie die Last im Verlauf des Erzählens immer mehr von meinen Schultern fiel.

      Sie wollten, dass ich den Abend über bei ihnen blieb, doch ich fiel vor Müdigkeit fast um und fühlte mich erneut unwohl. Der Anblick dieser Familie erinnerte mich daran, dass ich die meine verloren hatte, und dieses Mal war es stärker als Granados, stärker als Das Mädchen und die Nachtigall. Die Verzweiflung im Herzen und die Hitzewellen, die meinen Körper durchliefen, die Anfälle von Schüttelfrost und Niedergeschlagenheit raubten mir jede Kraft. Was würden zudem die Puechs sagen, wenn ich sie vom ersten Abend an allein ließ? Es gelang mir, mich aus dem Sessel von Monsieur Levêque hochzuziehen, genau genommen aus dem Sessel seines Schwiegervaters, und Agnès begleitete mich zu meinem ›Zuhause‹.

      Als wir so Arm in Arm unter den kahlen Ästen der Bäume auf dem kleinen Platz dahingingen, begriff ich durch einen Druck ihrer Hand, einen kleinen Seufzer, der ihr entfuhr, dass das Leben für sie nicht immer einfach war, entgegen allem Anschein.

      »Ich wusste, dass es so enden würde«, sagte sie wütend. »In einem regelrechten Verhör.«

      »Einem Verhör? Aber nein«, murmelte ich und sammelte meine Kräfte, »ich habe es nicht so empfunden. Soll ich dir etwas sagen? Ich habe so einen Empfang nicht erwartet. Im Allgemeinen sind die Franzosen sehr hart gegenüber den Flüchtlingen. Vor allem den Dienstmädchen. Sie behandeln sie wie Nichtsnutze.«

      »Wie kommst du darauf?«

      »Einige Kameraden in Argelès, die in französischen Familien untergebracht wurden, haben uns geschrieben und erzählt, wie es war. Nein, glaube mir, deine Eltern sind sehr gut, du …«

      »Hör auf, Marie. Mein Vater ist unerträglich, das hast du doch gesehen.«

      »Unerträglich?«

      »Ja. Im Übrigen reden wir kaum miteinander. Guten Tag, auf Wiedersehen, und manchmal nicht einmal das. Und du, wie war es mit dir und deinem Vater?«

      »Wunderbar!«, sagte ich und trat vor Rührung auf der Stelle. »Aber das war etwas anderes, uns verband die Musik. Er war der Erste, der mich unterrichtete, verstehst du? Das hat uns einander sehr nahegebracht. Mama sagte, dass wir beide ein Clan wären, ein Clan im Clan. Ja, wir haben uns oft unterhalten. Sehr oft. Auf jeden Fall wusste er von allem, was in meinem Innern vor sich ging. Also war es auch sinnlos, ihm etwas zu verheimlichen, ebenso gut konnte ich es ihm erzählen.«

      »Das gibt es, ein Vater, der seine Tochter versteht?«

      »Natürlich gibt es das.«

      »An dem Tag, an dem mein Vater sich die Zeit nimmt, mir zuzuhören, nichts tut, als mir zuzuhören … und was das Verstehen angeht …«

      Der Weg vom Vauban zur Bäckerei der Puechs war nicht sehr weit. Der Platz vor der Kirche, eine kleine Seitenstraße, einige Schritte in der Rue Saint-Jean, dafür brauchte man nur wenige Minuten.

      »Mostaganem, das sagt mir etwas«, meinte ich, als wir ankamen. »Das ist seltsam, ich kenne nur einen Städtenamen in Algerien außer Algier und Constantine, und das ist ausgerechnet die Stadt, in der dein Vater geboren ist.«

      »Und was sagt es dir?«

      »Nichts«, antwortete ich nach einigem Nachdenken. »Nichts. Vielleicht etwas von der Seite meiner Mutter her. Meine Mutter war wie dein Vater: Sie sagte nicht ein Wort über ihre Vergangenheit.«

      Martha

      Es sollte mehrere Wochen dauern, bis Agnès und ich uns wiedersahen. Hatte sie Villefranche nach Weihnachten verlassen? Verschloss Madame Puech ihre Haustür vor ihr? Ich weiß es nicht. Agnès’ Verschwinden in den letzten Tagen des Jahres 1939 und den ganzen Januar 1940 über ist und bleibt für immer eine Frage ohne Antwort. Ich selber befand mich mehrere Tage zwischen Leben und Tod, direkt nach meinem Besuch im Vauban, und jene Tage sind meinem Gedächtnis entschwunden. Im Grunde sehe ich mich zusammen mit ihr auf der Stadtmauer, im Wohnzimmer ihrer Eltern und dann ohne Übergang auf dem Sofa liegend, wo ich den restlichen Winter verbrachte. Aber in der Zwischenzeit hatte mein Schicksal das von Martha Soulas gekreuzt. Martha hat die ganze Zeit, in der ich zwischen Leben und Tod schwebte, über mir gewacht, und ohne sie gäbe es mich heute nicht mehr und ich könnte diese Erinnerungen nicht mehr weitergeben und dabei meine Tränen unterdrücken, wenn ich an alles denke, was sie für mich getan hat.

      »Ah! Da bist du ja!«, rief sie aus, als ich wieder zu Bewusstsein kam. »Mach nicht so ein Gesicht, ich habe noch nie jemanden gefressen. Ich bin die Mutter von Félicie, die Mutter deiner Chefin. Du bist zu Hause«, fuhr sie angesichts meiner Bestürzung fort, »bei Madame und Monsieur Puech, erinnerst du dich? Die Bäcker.«

      Ich hob den Blick und erkannte die Decke wieder, den Kristallleuchter und die Möbel des Esszimmers, in dem ich am Tag meiner Ankunft den Tisch gedeckt hatte, in der Zitadelle … von Villefranche, genau … am Abend meiner Ankunft in Villefranche-de-Conflent.

      »O nein!«, sagte sie entschieden und unmissverständlich, als ich Anstalten machte aufzustehen.

      »Dir ist Ruhe verordnet. Das ist jetzt dein Programm: Ruhe, Ruhe und nochmals Ruhe. Heute im Verlauf des Tages oder morgen kommt der Arzt vorbei. Solange wirst du dich nicht von der Stelle rühren. Nach all den Sorgen, die du uns bereitet hast …«

      »Die Bäckerei …«

      »Die Bäckerei?«, fragte sie lachend. »Die Bäckerei kann auf dich verzichten, mach dir keine Sorgen.«

      »Aber … Madame Puech rechnet mit mir, ich muss …«

      »Madame Puech, Madame Puech … Félicie kommt gut ohne dich klar, beruhige dich. Sie steht ein wenig früher auf, das tut ihr sehr gut.«

      »Ich will nicht zurück nach Argelès«, sagte ich, griff nach ihrer Hand und drückte sie.

      Das Erwachen im Esszimmer der Puechs markiert in meinem Gedächtnis den Beginn eines unüberschaubaren Zeitabschnitts, an dessen Ereignisse ich mich nicht mehr genau erinnere. Sie sind mir eher durch die Berichte von Martha und Pfarrer Raynal


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