Das Mädchen und die Nachtigall. Henri Gourdin

Das Mädchen und die Nachtigall - Henri Gourdin


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Zeit eine hohe Meinung von Frankreich, als Land der Freiheit, der Demokratie und als Republik. Obwohl ich politisch nicht sehr bewandert war, kannte ich die großen Errungenschaften des Front populaire: die Vierzig-Stunden-Woche, Urlaubsgeld, Tarifverträge … Zeitschriften, Filme und die Wochenschau im Kino zeigten uns geschminkte Frauen in kurzen Kleidern (immerhin bis unter das Knie) und elegante Männer, die in Traumautos stiegen, um mit hundert Stundenkilometern auf ganz geraden Straßen dahinzusausen, oder aber hochmoderne Fabriken, Mähdrescher, Gymnastikwettbewerbe. Natürlich passte Villefranche nicht ganz in dieses Bild: Hier gab es weder Cabriolets noch Männer in dreiteiligen Anzügen, und die Puechs waren so gekleidet wie spanische Bäcker, nicht besser und nicht schlechter.

      Tatsächlich versetzten mich die Befestigungsmauer und die kleinen verwinkelten Straßen eher ins Mittelalter zurück. Und deshalb erstaunten mich Agnès und der Priester umso mehr. Sie unterschieden sich völlig von den entsprechenden Spaniern, zumindest von denjenigen, die ich kennengelernt hatte, und für mich symbolisierten sie vom ersten Tag an die französische Modernität.

      Vor allem Agnès. Als sie uns an jenem Tag ankommen sah, ging ein Leuchten über ihr Gesicht. Sie lehnte mit dem Rücken an einem der kleinen Bäume auf dem Platz zwischen dem Kirchentor und dem Eingang zum Vauban, dem Café, das ihr gegenüberlag. Sie beobachtete zwei Jungen von ungefähr acht und zehn Jahren, vielleicht passte sie auch auf sie auf. Ihr Mantel öffnete sich über einem schönen weißen Kleid. Erst dann sah ich, dass sie ein Bein angewinkelt hatte und sich mit der Schuhsohle am Stamm abstützte. Eine ihr eigene Haltung, die ich in der kommenden Zeit noch oft sehen würde. Sie lächelte, als sie uns erblickte, machte jedoch keine Bewegung in unsere Richtung. War sie es gewohnt, dass die Leute, bis hin zum Gemeindepfarrer, sich um sie bemühten?

      »Warum nicht?«, sagte sie einfach, als der Priester ihr vorschlug, uns zu begleiten.

      Sie verließ ihren Platz, wechselte einige Worte mit den Kindern und ging zu einer Tür voran, die sich rechts der Kirche in der Befestigungsmauer öffnete.

      »Die Pforte«, sagte sie zu mir gewandt. »Alles in Ordnung mit dir?«, fragte sie dann ganz sanft mit ihrer schönen Stimme und hakte sich bei mir wie am Abend zuvor unter.

      »Es geht«, murmelte ich mit Tränen in den Augen.

      Agnès, der Pfarrer, die Kunden in der Bäckerei … da war auf einmal so viel Wohlwollen um mich herum.

      An jenem Tag verstand ich nicht viel von den Erläuterungen des Priesters über die militärische Architektur des 17. Jahrhunderts, trotz Agnès’ Übersetzungen mal ins Katalanische, mal ins Spanische. Kurtine, Burgwarte, Ausfallpforte, Pechnase … Ich würde einige Zeit brauchen, um das geläufige Vokabular der Bürger von Villefranche zu beherrschen, und Monate, um zu begreifen, dass Kurtinen von Schießscharten durchbrochene Mauern sind, die die Türme miteinander verbinden, dass die Wassergräben am Fuße der Mauern dazu dienen, den Feind im Schlamm stecken bleiben oder ertrinken zu lassen, dass die Ausfallpforte eine geheime Tür im Mauerwerk ist und die Pechnase ein Vorsprung auf der Mauer, von wo aus die Verteidiger Steine, Pfeile, heißes Pech und andere Delikatessen auf die Angreifer hinunterwerfen.

      Sofort entwickelte ich eine Schwäche für die Burgwarten: Wächterhäuschen, die sich an den Mauerecken befanden und ein wenig überhingen, von wo aus der Wachposten den Fuß der Befestigungsmauer nach zwei Seiten hin kontrollierte. Warum diese Zuneigung zu den Burgwarten? Weil sich das Wort so schön anhörte und die entsprechenden Bauteile so elegant waren? Wegen der Verbindung von rotem Backstein und grauem Marmor? Weil sie im Licht auf dem First des Daches wie die Vögel hoch oben in den Bäumen sangen? Vielleicht. Tatsache ist, dass ich sie in dem Grau in Grau meines ersten Weihnachtsfests in Villefranche entdeckte und inmitten der für mich fast unendlichen Vielfalt der Verteidigungsanlage unterscheiden konnte.

      Die südliche Befestigungsmauer zur Bergseite hin war noch länger als die zur Ebene, die mich am Vorabend so beeindruckt hatte, und bildete mit ihren Ausfallpforten, flankierenden Türmen und drei mächtigen Bollwerken einen Mauerwerksverband von furchterregender Wirkung. Das alles war sehr beeindruckend, doch der Gedanke, hinter diesen Mauern zu leben, von dieser massiven Ringmauer eingeschlossen zu sein, erfüllte mich mit Sorge. Vor allem, als ich feststellte, dass die Befestigungsmauer wirklich in sich geschlossen war.

      »Kannst du folgen?«, fragte Agnès, als sie mein nachdenkliches Gesicht sah.

      »So einigermaßen«, antwortete ich und richtete meinen Blick auf die zyklopische Mauer meines Gefängnisses.

      »Es macht dir Angst, nicht wahr?«

      Wie erriet sie meine Gefühle?

      »Man gewöhnt sich daran, du wirst sehen.«

      »Was wird man tun, wenn die Nationalisten mit ihren Panzern kommen? Sie werden die Tore blockieren und uns festnehmen, niemand wird überleben. In Tarragona gab es zumindest …«

      Doch weder Agnès noch der Pfarrer glaubten, dass die Truppen jemals die Grenze überqueren würden. Falls sie es wider Erwarten doch tun würden, welchen Grund hätten sie, Villefranche anzugreifen?

      »Wegen des Bahnhofs«, sagte ich.

      Und ich sah, dass ich ins Schwarze getroffen hatte. Ja, der Pfarrer und sogar Agnès konnten verstehen, dass Franco oder sein Freund Hitler die Kommunikation zwischen der Ebene des Roussillon und der Cerdagne abschneiden wollten. Sie schätzten die Gefahr ab, doch es war Weihnachten, und die beiden hatten beschlossen, die Bilder vom Lager und den Bombardierungen aus meinem Kopf zu verscheuchen.

      »Unmöglich!«, rief der Priester trotz der offensichtlichen Berechtigung meiner Befürchtungen aus.

      »Was stellst du dir nur vor!«, bestärkte ihn Agnès schulterzuckend.

      »Komm lieber her und schau dir das an!«, fuhr sie fort und zog mich in die Rue Saint-Jacques.

      Sie führte uns zu dem kleinen Platz mit dem gelblichen Hund und zeigte mir dort, mit dem Café de la Poste im Rücken, über die Dächer der Straße hinweg die Steinmauern am Berghang auf der anderen Seite des Flusses, die Vorwerke und Schanzen des Fort Libéria. In der Tat eine großartige Festung, die in der Lage war, die schlimmsten Feinde des Sonnenkönigs aufzuhalten.

      »Ich sehe keine Geschütze der Flugabwehr«, sagte ich in meiner Einfältigkeit.

      Sie hatten keine Vorstellung, wie Flugabwehrgeschütze aussahen. Sie wussten nur, dass die Armee auf dieser Bergspitze, von der aus man beide Täler überblicken konnte, ein Telefon und zwei Reservisten stationiert hatte, mit dem Auftrag, den Himmel zu überwachen. Wenn sie eines Tages ein verdächtiges Flugzeug entdecken sollten, würden sie die Post in Villefranche anrufen und von dort mit dem militärischen Befehlshaber verbunden werden, der den Alarm auslösen würde. Und falls mit dem Apparat irgendetwas nicht funktionierte, könnten sie immer noch Signale in Richtung von Mont-Louis aussenden, tagsüber mit einer Art optischem Telegrafen und nachts mithilfe eines batteriebetriebenen Lampensystems. Als ob die deutsche Luftwaffe ihnen Zeit lassen würde, die Post anzurufen oder ihre Wimpel für den Signalmast hervorzuholen! Ich hatte die deutschen Geschwader gesehen, ich wusste, dass die Bomben fallen würden, ehe die Flugzeuge zu hören waren. Doch ich behielt meine Gedanken für mich und ließ mich durch eine Gasse unterhalb der Kirche zu einer Treppe leiten, die auf die Befestigungsmauer hinaufführte. Dort schob der Priester seine Mantelschöße zurück und wählte aus dem Schlüsselbund an seinem Gürtel einen übergroßen Schlüssel aus, wie man ihn an Statuen des heiligen Petrus in den Kirchen sieht.

      Zunächst folgte ich ihnen in den halbkreisförmigen gewölbten Gang, der sich hinter einem Gitter auftat und durch eine Reihe kleiner gewölbter Fenster und das Spiel von Licht und Schatten auf den Steinen gegliedert war. Ganz am Ende befand sich eine Wendeltreppe, die in den überdachten Wehrgang führte, der die lange Befestigungsmauer zu beiden Seiten der Porte de France dominierte. Zur Linken wälzten sich weit unten die Fluten der Têt, der Cady floss am Fuße der Mauer entlang, und ich erkannte auch die Straße wieder, der wir vom Bahnhof aus gefolgt waren, als wir zum Dorf hinaufgingen, und die Steinbrüstung, auf die ich mich gestützt hatte.

      »Die Têt, der Cady«, sagte ich und zeigte mit dem Finger auf sie.

      »Na!«,


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