Das Mädchen und die Nachtigall. Henri Gourdin
schaute, hatte sie mich bewusstlos vorgefunden. Entweder hatte sie angesichts der Kosten eines Arztbesuchs gezögert, ihn zu holen, oder Dr. Durand hatte es nicht für nötig befunden, am Tag nach Weihnachten zu kommen. Jedenfalls kam er erst am folgenden Tag, nachdem er die Sprechstunde bei der Eisenbahngesellschaft in den Diensträumen des Bahnhofs absolviert hatte. Er diagnostizierte eine Lungenentzündung und verordnete Ruhe, viel Ruhe. Zu jener Zeit war es das einzige bekannte Heilmittel.
Anscheinend gab mein Zustand Anlass zur Sorge, denn Durand kam am nächsten Tag zusammen mit einem Doktor namens Puig aus Perpignan wieder, einem bekannten Arzt. Durand wollte seine Meinung hören, und ich glaube auch, dass er es war, der ihn von Prades aus mitnahm. Sie sprachen in ihrem medizinischen Kauderwelsch miteinander, doch ich verstand, dass Puig in Prades einen katalanischen Flüchtling behandelte, der ein berühmter Musiker war. War das nicht der Name dieses großen Bahnhofs, wo der Zug angehalten hatte, ehe er den Engpass ansteuerte, an dem Tag, als ich aus dem Lager kam, der Bahnhof mit dem Weihnachtsbaum? Und dieser katalanische Musiker, dieser Virtuose, um wen handelte es sich?
Auf diese Weise erfuhr ich von Pablo Casals Anwesenheit einige Kilometer von Villefranche entfernt.
»Kennen Sie ihn?«, fragte mich Dr. Puig, als er bemerkte, welche Wirkung allein der Name auf mich ausübte.
Ob ich Pau kannte? Ich hatte ihn 1934 in Barcelona spielen hören, und das hatte meine Begeisterung für die Musik ausgelöst. Ein Glücksfall. Als Instrumentenbauer und Cembalist erhielt mein Vater oft Karten für Konzerte. Dieses Mal hatte er Teresa, Mama und mich mitgenommen, als Paus Orchester spielte. Es war zudem meine erste Reise über die Grenzen von Tarragona hinaus, und alle meine Sinne waren hellwach. Pau hatte Papa und mich nach dem Konzert empfangen. Allein das! Später war er mein Lehrer am Musikkonservatorium in Barcelona. Er selbst war nur selten da, aber alle seine Unterrichtsstunden hinterließen bei uns Schülern einen bleibenden Eindruck.
»Flüchtig«, sagte ich errötend.
»Musikerin?«
»Ein wenig.«
»Instrument?«
»Klavier, Cembalo. Ein bisschen Cello«, fügte ich hinzu.
»Cello!«, murmelte er wie zu sich selbst.
Er zog seine goldene Uhr aus der Jackentasche, legte seinen Daumen an den Rand des Deckels und hob ihn mit einem Finger an, während er mit der anderen Hand die Pulsader an meinem Handgelenk suchte. Und ich dachte, dass Pablo Casals, der über sechzig Jahre alt war, ihn mehr brauchte als ich. Ich war weder zu etwas noch für jemanden nützlich. Sollte ich am nächsten Tag sterben, würden – wenn überhaupt – höchstens drei Verrückte meinem Sarg folgen. Bei ihm war das etwas anderes, die Welt brauchte ihn.
»Wie geht es ihm?«, fragte ich, als er sich endlich zu mir umdrehte.
»Sind Ihre Patienten alle so?«, fragte er Durand und lachte laut auf. »Sie wird durchkommen«, sagte er noch und wandte sich Martha zu, »aber sie braucht Ruhe, viel Ruhe, keine Anstrengung, keine Sorgen, keine Aufregung, natürlich keine Arbeit.«
Ich sollte zwei ganze Wochen lang das Bett hüten und danach nur sehr langsam wieder mit allem anfangen. Richtig gesund würde ich erst in zwei, vielleicht drei Monaten sein. Madame Puech machte ein langes Gesicht.
»Wir haben sie aufgenommen, damit sie uns hilft«, sagte sie.
»Vergessen Sie das«, entgegnete Durand schroff. »Die Kleine hat sehr gelitten. In ihrem Zustand würde die Arbeit sie umbringen. Sie würden ihren Tod auf dem Gewissen haben, lassen Sie sich das gesagt sein. Und die Polizei am Hals.«
Die Erwähnung der Polizei beschäftigte mich. War Madame Puech wirklich fähig, mich nach Argelès zurückzuschicken, in dem Zustand, in dem sie mich vor sich sah? Warum warnte dieser Dr. Durand, der sie gut zu kennen schien, sie auf so eindringliche Weise?
»Machen Sie sich keine Sorgen um Pau«, sagte Dr. Puig zu mir, als er sich verabschiedete. »Das Erstarken des Faschismus macht ihm große Sorgen, aber physisch wird er uns alle überleben. Sie werden es selber feststellen, wenn Sie ihn besuchen werden. Sobald es Ihnen besser geht. Das hängt nur von Ihnen ab, von der Ruhe, die Sie sich gönnen.«
»Spielt er?«
»Er weigert sich, öffentlich zu spielen, seit Spanien in Francos Händen ist, wissen Sie das nicht? Wohlgemerkt, manchmal macht er eine Ausnahme für Konzerte zugunsten von Flüchtlingen. Ich werde Ihnen Bescheid geben.«
Martha hätte ein Violoncello nicht von einer Viola da gamba unterscheiden können, aber sie wusste, dass Pablo Casals sich in Prades niedergelassen hatte und die Flüchtlingslager besuchte. Was den Priester anging, so sagte er, als ich mit ihm über ihn sprach: »Casals? Er ist in Prades im Grand Hôtel.«
Anscheinend war ich die einzige Person in der Region, die die Adresse von Pablo Casals nicht kannte.
»Haben Sie ihn spielen hören?«
Ich nickte zustimmend.
»Kennen Sie ihn?«
»Ja«, antwortete ich so ungezwungen wie möglich.
Ich kannte ihn natürlich nicht näher, aber ich verdankte ihm meine Leidenschaft für die Musik. Vor den politischen Ereignissen lasen ich und meine Kommilitonen aus dem Konservatorium alles, was über ihn erschien, zumindest alles, was uns zugänglich war. Er war für uns nicht nur ein unvergleichlicher Musiker, ein genialer Interpret, der Erneuerer des Cellos, sondern ebenso ein großer Denker und Pazifist. Auch ein Katalane: Er versäumte keine Gelegenheit, seinen Patriotismus zu beteuern, und diese Treue zu seiner Herkunft berührte uns, die Katalanen, sehr. Ich hatte immer davon geträumt, dass es, wenn ich einen Lehrer haben sollte, Pablo Casals sein würde. Lehrmeister der Musik, des Denkens, des Lebens. Er hatte sich geweigert, in Deutschland aufzutreten, als Hitler begann, Franco zu unterstützen. Ein erhebliches Opfer für ihn. Ein Land, in dem er so viele Freunde hatte! So viele Bewunderer! Das Land von Bach und Beethoven! Ich wusste noch nicht, dass er nach seiner Flucht aus Katalonien einige Konzerte bei der BBC gegeben und es sich zur Gewohnheit gemacht hatte, seine Darbietungen als Zeichen der Würdigung und Ermutigung seiner Landsleute mit einer selbst komponierten Interpretation von El cant dels ocells – Der Gesang der Vögel – zu beenden, einem alten katalanischen Volkslied.
Durand hatte zwei Wochen komplette Bettruhe verordnet; es wurden zwei Wochen fast durchgehenden Schlafens. Eines Morgens fühlte ich mich besser, einfach so, als ich aufwachte, und als hätte Martha nur darauf gewartet, verlegte sie mich aus dem Esszimmer in die Küche hinüber. Sie stattete das Sofa mit Bettzeug aus, und so wurde dies bis Februar vom ersten bis zum letzten Sonnenstrahl meine Welt. Diese Küche unterschied sich nicht sehr von der unsrigen über der Werkstatt meines Vaters. Bis hin zu dem gusseisernen Herd, der mit großen Holzkohlen betrieben wurde, dem großen Bauerntisch und dem Kommen und Gehen all der Freunde und Nachbarn. Der Katalane des Conflent ersetzte im Wortschatz den aus Tarragona, die Hauptrolle von Mama nahm Martha ein, und auch die anderen Menschen waren fast austauschbar.
Martha hatte die Fähigkeit, die Kunden der Bäckerei am Klang der Eingangstür zu identifizieren. »Monsieur Soundso«, verkündete sie beim Läuten des Glöckchens. »Was bekommen Sie, Monsieur Soundso?«, hörte man Arlettes Stimme als Echo. Eine Leistung! Auf den ersten Blick schon, aber mit der Zeit stellte ich fest, dass die Leute immer ungefähr in derselben Reihenfolge und zur selben Uhrzeit kamen, und ich bemerkte ebenso, dass Martha immer den Außenspiegel im Blick hatte – er war hinter dem Fenster wie ein Rückspiegel am Kotflügel eines Autos angebracht. So hatte sie, ohne sich von ihrem Spülbecken wegzubewegen, den kleinen Platz und einen Großteil der Rue Saint-Jean im Blick. Man konnte auch sagen, ein Drittel von Villefranche.
Sie stand vor Tagesanbruch auf, machte sich sogleich an ihre Aufgaben und blieb bis zum Abend dabei. Ein arbeitsreiches Leben. Nicht eine Minute Pause. Sie herrschte über die Küche, über einen Garten, den sie irgendwo auf der Seite der Vorstadt hatte, und sie verwaltete die Vorräte, strickte, bügelte, stopfte, bohnerte, wischte Staub und wachste. Sie überließ Arlette nur die Wäsche und das Aufwischen der Böden am Freitag.
Eines Tages rief Arlette sie vom