Das Mädchen und die Nachtigall. Henri Gourdin

Das Mädchen und die Nachtigall - Henri Gourdin


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      »Der ursprüngliche Verlauf des Conflent«, sagte er, als wolle er sich selber widersprechen, und zeigte mir den sich schlängelnden Weg tief unten in der Schlucht. »Eine der historischen Routen zur Überquerung der Pyrenäen.«

      »Zur Römerzeit«, ergänzte Agnès.

      Nun ging es darum, wer von beiden mir die vollkommenere Erklärung über die ›Via Confluentana‹ geben würde: über die Anordnung der Steinblöcke und ihre Markierung mit den Initialen der Steinbrucharbeiter, über den Schusswinkel und die Breite der Schießscharten, die Tiefe der Abhänge und die Anordnung der Mauerzinnen. Ich rechnete diese Rivalität dem heimlichen Einverständnis zu, das ich seit dem Vorabend zwischen den beiden beobachtete, und ich fragte mich, welcher Art ihre Beziehung war. »Ich mag Agnès sehr«, hatte der Pfarrer auf dem Weg in die Altstadt gesagt. Seine Äußerung hatte mich im ersten Augenblick nicht allzu sehr verwundert, er mochte Agnès so, wie der Hirte jedes seiner Schafe liebte, und das ›sehr‹ zeigte nur eine harmlose Zuneigung zu einem Schaf, das begabter oder liebenswürdiger als die anderen war. Doch der Glanz in seinen Augen und die Lebhaftigkeit, mit der er in Agnès’ Gegenwart sprach, eröffneten andere Vermutungen.

      »Nicht schlecht, finden Sie nicht auch?«, fragte er, als sie mir das Prinzip der Gräben und Aufschüttungen erklärt hatte.

      »Ja, das war gut verständlich«, erwiderte ich und zeigte meine ganze Bewunderung.

      »Sie glauben Agnès Levêque vor sich zu sehen«, fügte er großtuerisch hinzu. »In Wirklichkeit haben Sie die Reinkarnation eines Festungsbaumeisters der klassischen Zeit vor sich! Einen Schüler des großen Vauban.«

      »Wie haben Sie das erraten?«, fragte sie ihn und schenkte ihm ein Lächeln, das ihr ganzes Gesicht zum Leuchten brachte.

      »Er hat an den bekanntesten Belagerungen des Sonnenkönigs teilgenommen«, sprach der Priester mit unerwartetem Feuer weiter, »bei der Erbauung von sechs Festungen, dem Ausbau von Villefranche, dabei will ich es belassen … ehe er einige Jahrhunderte übersprang, um sich mitten unter uns in den Zügen dieser jungen Schönheit wiederzuverkörpern.«

      Ich wandte mich der Schönheit zu, und es fiel mir schwer, Agnès wiederzuerkennen. War es die Huldigung ihrer Jugend, das heimliche Einverständnis, das dieser Dialog zwischen ihr und dem Priester herstellte? Ich kannte sie erst seit gestern, und in keinem Augenblick hatte ich sie so strahlend gesehen.

      »Könnte sie die Verteidigung von Villefranche gegen Francos Soldaten organisieren?«, schaltete ich mich stirnrunzelnd in das Spiel ein.

      »Ohne den geringsten Zweifel«, antwortete sie schlagfertig.

      »Da wäre ich mir nicht so sicher«, entgegnete der Pfarrer mit skeptischer Miene. »Einer Armee des 17. Jahrhunderts, ja, dem wäre sie gewachsen. Sie wüsste, wo ihre Leute stationiert und wann das Feuer eröffnet werden müsste, wann der richtige Zeitpunkt wäre, die Tore zu schließen und den Gegenangriff zu starten. Sie würde die Begeisterung ihrer Männer entfachen, und die schlimmsten Entbehrungen wären unter ihrer Führung ein Nichts für sie.«

      »Dasselbe würde für den Kampf gegen die Faschisten des 20. Jahrhunderts gelten«, erwiderte die Schülerin von Vauban.

      »Wenn ich es mir genauer überlege, gebe ich Ihnen doch recht. Ihr Erscheinen auf der Befestigungsmauer würde jeden x-beliebigen Feind, egal in welcher Epoche, entmutigen«, sagte er mit einem leisen Lächeln.

      Ich folgte dem seltsamen Dialog des Gelehrten und seiner jungen Nacheiferin und fragte mich, ob ich mich in der Epoche geirrt hatte, ob der Zug von Perpignan mich nicht in die Zeit von Vauban, Louvois und den königlichen Ingenieuren zurückversetzt hatte, die diese Kanonengeschütze und Pechnasen entworfen hatten. Ich schaute nach oben, drehte den Kopf, und mein Blick traf nur Befestigungsmauern, Burgwarten und Steinbrüstungen.

      »Drei Jahrhunderte, und nicht eine Falte«, sagte der Priester in diesem Moment, »und wenn es so sein soll, wird das alles in wenigen Tagen nicht mehr existieren.«

      »Nicht mehr existieren?«

      »Der Krieg, Sie vergessen den Krieg. Europa ist ein Pulverfass. Das ist nicht ganz neu, aber jetzt ist da ein Mann, ein gewisser Adolf Hitler, der eine Zündschnur bis zu diesen Tonnen gelegt hat und an ihrem Ende mit dem Feuerzeug in der Hand hämisch grinst.«

      »Sie übertreiben«, sagte Agnès und zuckte mit den Schultern, vielleicht, um von dem Thema wegzukommen, das bei mir schlimme Erinnerungen wachrufen könnte.

      »Ich glaube nicht! Wissen Sie, ich kenne die Deutschen ein bisschen. Zwei Jahre Schützengräben und ein Jahr Gefangenschaft!«

      »Und?«

      »Es sind Menschen wie Sie und ich. Doch es genügt, dass ein Fantast ein wenig ihren nationalen Stolz kitzelt, und auf einmal erkennt ihr sie nicht wieder, und sie sind zu allem bereit.«

      Renée Levêque

      Dunkelheit brach über die Rue Saint-Jacques herein, als der Rundweg auf der Befestigungsmauer uns wieder dorthin zurückführte.

      »Und Sie, Marie?«, fragte der Priester, als er seinen Mantel wieder über dem Schlüsselbund zuknöpfte. »Sie haben bei sich zu Hause den Krieg erlebt. Den Krieg … wie soll ich sagen? Den Bürgerkrieg, den schlimmsten von allen, nicht wahr?«

      Eine einfache Frage im Verlauf der Unterhaltung, doch sie erinnerte mich an Teresa und die schmerzhaften Ereignisse jener letzten Stunden. Teresa! Ich sah wieder ihr Gesicht vor mir, hörte ihre Stimme. Ich spürte das eiskalte Gewicht ihres Körpers an dem meinen, auf unserem Lager in der Baracke von Argelès.

      »Kommen Sie mit und wärmen Sie sich im Pfarrhaus auf«, schlug der Priester vor, als er mich zittern sah.

      »Oder bei mir zu Hause«, sagte Agnès und hakte sich bei mir unter.

      Bei ihr, bei ihm, das war mir gleich. In Wirklichkeit wünschte ich nur, mein Zimmer und mein Bett aufsuchen zu können, um meine Verzweiflung im Schlaf und im Alleinsein zu ertränken. Doch Agnès bestand darauf, mich zu sich nach Hause mitzunehmen, zum Vauban, genauer gesagt in die Wohnung ihrer Eltern im ersten Stock des Hauses über dem Café. Man durchschritt das Café und öffnete eine Tür am Ende der Bar, stieg eine Steintreppe hinauf und befand sich in einer kleinen schmucken Halle. Eine Tür auf der rechten Seite führte in die Küche, die auf der linken zum Flur mit den Schlafzimmern, eine letzte lag gegenüber, und diese öffnete Agnès für mich.

      Madame Levêque saß strickend in einem kleinen Sessel vor dem Fenster, und ich war von diesem ersten Anblick ihres heiteren Gesichtsausdrucks verblüfft. Heiter? Nein, es war etwas anderes, ein Ausdruck von Glück, fast von Glückseligkeit, der mich an Julia, unsere Nachbarin in Tarragona, erinnerte. Wenn sie wie jeder hier auf Erden ihren Anteil an Trauer und Widrigkeiten erlebt hatte, so hatten diese Unglücke sie nicht berührt, oder sie ließ sich nichts davon anmerken.

      Monsieur Levêque spielte an dem großen Tisch mit den beiden Kindern, auf die Agnès auf jenem Platz aufgepasst hatte, als wir sie am frühen Nachmittag aufsuchten. Seine Gesichtszüge konnte ich im Halbdunkel nicht erkennen, aber er war groß, hielt sich aufrecht und vermittelte Sicherheit und Autorität.

      Insgesamt herrschte eine wirklich gemütliche Atmosphäre, ganz anders als bei den Puechs. Alle begrüßten mich, sogar die kleine Hündin zu Füßen von Madame Levêque, und diese wies mir den Sessel zu, der neben ihr vor einem Fenster stand, das zur Rue Saint-Jacques hinausgehen musste. Sie stellte mir auf Katalanisch einige Fragen, bis Agnès mit einem großen Tablett voll dampfender Schalen aus der Küche zurückkehrte.

      »Ich wusste, dass du sie belästigen würdest«, sagte sie in dem leicht scharfen Ton, der ihr eigen war. »Immer musst du unseren Gästen tausend Fragen stellen. Hast du dich nicht gefragt, ob die Leute wirklich Lust haben, solchen Verhören ausgesetzt zu werden?«

      »Die Neugier …«, begann Madame Levêque.

      »… ist ein schlimmer Fehler«, beendete ihre Tochter den Satz. »Was würdest du sagen, wenn Marie


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