Von Herzen. Peter Spans
Zum Beispiel, indem er das Kopfanschlagen intensivierte. Wenn er was gegessen hatte, würde er darüber nachdenken. Noch konnte er ja.
Alle Supermärkte und Kioske, an denen Paul vorbeigekommen war, waren schon geschlossen gewesen. Er hatte dreißig in der Tasche. Er konnte in jedes günstige Restaurant gehen, aber er würde lieber verhungern, als sich noch einer Demütigung auszusetzen, falls ihn jemand erkannte und eine Szene machte. Andererseits würde er vermutlich allein aufgrund seines Geruchs gar nicht erst hereingelassen werden.
TAUSEND
Boah!
Viel besser, als was Mama kochte. Aber das würde er ihr nienie sagen. Es war so lecker, dass er aufpassen musste. Mama sagte immer, dass er dumm war, weil er nie aufpasste. Aber er wusste einfach nicht, wann man aufpassen musste. Er aß immer ganz große Gabeln ganz schnell, und dann war alles ganz schnell weg. Aber heute war er schlau. Er schnitt nur kleinekleine Stückchen ab, damit von dem Leckeren langelange was blieb.
Waldo gluckste vor Glück. Er war schlau, es war lecker, und sie kam durch den Vorhang. Waldos speckige Finger kraulten Luft.
»Lolita!«
Lolita schwebte an den Tisch. »Na, Waldo? Hast du Mamas Portemonnaie wieder?«
Waldo wedelte damit. »Jaaa. Setzt du dich? Bittebitte.«
»Dreißig.«
»Gestern hast du zwanzig gesagt. Mit probieren.«
Lolita fixierte Waldo, bis sie dreißig auf der Hand hatte, glitt auf den Platz neben ihm und beobachtete mit wachsender Abscheu, wie Waldo ein Stück Fleisch auf die Gabel pikte und es von allen Seiten in die dicke Jus tunkte, um es ihr hinzuhalten.
»Das musst du probieren.«
Lolita wandte sich ab.
Waldo wedelte mit der Gabel vor Lolitas Mund. »Probier. Du musstmusstmusst!«
»Tausend.«
Waldo sah das Stück Fleisch auf der Gabel besorgt an. »Das ist aber viel. Ist was damit?«
Eckerd hielt am Tisch.
»Hält der Himmel voller Geigen, was ich versprochen habe?«
»Er ist toll, aber Lolita will nicht probieren.«
Eckerd runzelte die Stirn in gespielter Entrüstung. »Will sie nicht?«
»Gestern hat sie sich gesetzt, probiert und zwanzig genommen. Heute will sie tausend.«
Eckerd hob eine Braue. »Tausend? Ist es denn so schlecht?«
Lolita fixierte Eckerd. »Hast du nichts anderes zu tun?«
Waldo zog eine Rolle Hunderter aus dem Stoffportemonnaie und schob sie Lolita hin, dann hielt er das Fleisch wieder nah vor sie. Lolita wand sich, aber Waldos Gabel folgte beharrlich ihrem Mund. Eckerd beugte sich ganz nah zu Lolita herunter.
»Tausend für ein Stückchen Fleisch. Das ist historisch.«
Lolita funkelte Eckerd böse an. Waldo berührte mit dem Fleisch Lolitas Mund und cremte ihn mit Jus ein.
»Komm! Der Koch kocht besser als Mama!«
Bebend zogen Lolitas Zähne das Fleisch von der Gabel, ihre Zunge versuchte, es ohne Umwege direkt in den Schlund zu befördern, aber schließlich konnte sie nicht anders, als es fest an den Gaumen zu pressen, sodass die feinen Fasern bereitwillig ihren Saft abgaben, der, vereint mit der reichen Jus, einfach umwerfend schmeckte.
Eckerd beugte sich neugierig zu ihr. »Und, wie ist es?«
Das Aroma des reinen Fleischs war köstlich, aber im Nachgang offenbarte sich eine fremde, bittere Note. Lolita wurde heiß, und ihr Puls raste, ihr Körper wusste, wessen Fleisch es war. Lolita musste würgen, hinter vorgehaltener Hand schluckte sie das Stückchen mit offenem Mund hinunter, leerte Waldos Wein in einem Zug, sprang auf und entfernte sich mit schnellen Schritten.
Waldo sah ihr verständnislos hinterher, dann zupfte er Eckerd am Ärmel.
»Du sagst Mama doch nicht, dass ich gesagt habe, dass der Koch besser als Mama kocht, oder?«
»Beim Grab meiner Mutter, nein!«
Waldo seufzte erleichtert.
PREISET DEN KOCH
Raphael hatte Kopfschmerzen, als ob ihm ein ganzer Tross muskulöser, schwitzender Gleisarbeiter Schienennägel in die Hirnrinde trieb. Zumindest stellte er sich das so vor. Sie hatten alle enge orange Tops an, ansonsten waren sie nackt.
Er hatte gedacht, wenn er sich schon verkriechen musste, würden wenigstens die Verbrechen aufhören. Wenn man aus allem raus war, gab es keine dummen Gelegenheiten mehr, keine offenen Rechnungen, keine schlechten Einflüsse. Und jetzt das. Das Schlechte verfolgte ihn. Es klebte an ihm. Es fraß sein Gesicht.
Ein vergnügliches Pfeifen sagte Raphael, wer unter dem halb geschlossenen Rollo der Durchreiche in die Küche schaute.
»Na, was geht? Alles okay?«
»Gar nichts ist okay. Es ist ekelhaft.«
»Was ist ekelhaft?«
»Was wohl?! Ich brate Menschenfleisch!«
Eckerd verschwand hinter der Durchreiche, um kurz darauf in der Küche wiederaufzutauchen, wo er eine große, starke Hand auf Raphaels knochige Schulter legte.
»Unsere Gäste finden es gar nicht ekelhaft. Im Gegenteil.«
»Dann sag ihnen doch mal, was sie da essen. Sie werden es dir vor die Füße kotzen. Und dann lynchen sie uns alle. Aber wem erzähl ich das. Der Herr wacht ja über uns.« Raphael wurde von einem Schluchzen geschüttelt.
Eckerd stellte sich neben den Herd, sodass Raphael ihn ansehen musste.
»Sorget nicht für morgen, es ist genug, dass jeder Tag seine eigene Sorge habe. Das ist Matthäus sechs vierunddreißig.«
Raphael bekam einen Weinkrampf. Eckerd ging etwas in die Knie, um ihm direkt in die Augen sehen zu können.
»Was meinst du, was ich für Gewissensbisse hatte. Ich habe das einzig und allein für Frank getan. Es ging ihm so schlecht. Und es wäre nie besser geworden. Aber jetzt ist es vorbei. Er ist jetzt bei Ihm. Was meinst du, wie ich um ihn geweint habe.«
»Gepfiffen hast du.«
»Um das Gewicht meiner Aufgabe ertragen zu können, ja.«
»Und was ist mit dem, was ich zu tragen habe?!«
»Nur mal so … Dein erster ciel plein de violons war für einen Dichter oder Schauspieler, jedenfalls einen sehr feingeistigen Menschen. Willst du wissen, was er gesagt hat?«
Raphael schluchzte. »Was denn?«
»Er hat darauf bestanden, dass ich dem Koch für seine Kunst danke. Er hat Kunst gesagt. Er findet, dass du ein Künstler bist. Und Waldo hat gesagt, dass du besser kochst als seine Mama.«
»Oh, wirklich?«
»Aber er bittet darum, dass wir es für uns behalten.«
Raphael riss ein Papier von einer Küchenrolle und schnäuzte sich die Nase.
»Klar, ich sag’s nicht weiter. Wem auch.«
»Ach ja, und ein Entrepreneur hat gefragt, wie viele Sterne du hast.«
Raphael reckte den Hals. »Oh. Hat er das?«
»Er hat nicht gefragt, ob du Sterne hast, sondern wie viele.«
Raphael tupfte sich die Tränen, schlenkerte mit dem Spielbein und wedelte mit abgeknicktem Handgelenk. »Jetzt erzählst du aber Quatsch. Du willst mich nur aufmuntern.«
»Klar will ich das. Aber deswegen ist