Von Herzen. Peter Spans
»Wäre eine Einladung an die Bar ein Anfang?«
»Was sollte mich dort anderes erwarten als die unerträgliche Banalität unreflektierter Geister? Gespenster, möchte man sagen!«
»Wie wäre es mit mehr schwerem Rot?«
»Sie wissen zu überzeugen! Wohl dem, der Vergessen bietet! Wie nennt sich mein Wohltäter?«
»Eckerd.«
»Felix.«
»Heißt das nicht der Glückliche?«
Felix folgte Eckerd zur Bar. »Ich sagte doch: Welcher Sadist hat sich diese Hölle ausgedacht?«
BE CREATIVE
Der Mann mit dem italienischen Markensakko und der dazu völlig unpassenden neonorangen Baseballkappe hatte sich den Himmel voller Geigen an die Bar bestellt und ihn in den kurzen Momenten zufrieden genossen, in denen er Sonia nicht verstohlen angestarrt hatte. Als Eckerd kam, stopfte er sich den letzten Bissen in den Mund.
»Das Filet hatte echt attitude. Wahnsinns-in-mouth-satisfaction. Fancy aftertaste! Wie viele Sterne hat der Koch?«
Eckerd nahm den Teller des Mannes auf.
»Wie viele Sterne würden Sie ihm denn geben?«
»Volle fünf.« Er sprach gedämpft, als er sich zu Eckerd lehnte. »Echt ne krasse Location hier, Respekt. Ziemlich uniques Styling hier. Und awesome food! Aber ihr müsstet wirklich was für eure brand recognition tun. No offence, aber ich hatte euren Laden gar nicht auf dem Zettel. Ihr fliegt komplett unter dem Radar. Ich bin übrigens Winfried.«
Er bleckte seine zu weißen, zu langen Jacketkronen zu einem Lächeln, und als es breit wurde, sah es aus, als ob es wehtat. Kinn und Jochbein seines kartonbraunen Gesichts waren bunt von blauen Flecken, quer über einer Augenbraue verdeckte ein Pflaster eine geklammerte Platzwunde.
»Freut mich. Eckerd.«
»Nenn mich Winnie. Machen alle meine friends.«
Eckerd sah auf Winnies Blessuren. »Bist du Boxer?«
»Nope, ich bin Marketeer. Also war ich, bis ich nen visionary flash hatte. Jetzt bin ich Entrepreneur.«
Eckerd nickte respektvoll.
Winnie beugte sich zu Marthe, schob ihr einen Schein hin und zeigte den Tresen entlang auf Sonia. »Hey, Beauty, machst du dem Babe da bitte was mit Wow-Faktor? Something creative, you know?«
Marthe hielt ein übergroßes grelltürkises Cocktailglas hoch. Winnie gab ihr ein Daumen-hoch und ein rechteckiges Grinsen.
ENTROPIE
LENR. Low energy nuclear reactions. Kalte Fusion. Sonias Daumen wischte durch eine Reihe von Blogs, in denen sich eine Gruppe chinesischer Teilnehmer des Symposiums mit einem angeblich erfolgreichen Experiment zur Erzeugung unendlicher sauberer Energie brüsteten. Dabei saugte sie an dem pompös überdekorierten Tropic Thunder, den Winnie spendiert hatte, weil ihr Outfit so superslick war, dass es einen Drink verdiente. Nur so aus respect.
Sonia hatte sich den Drink spendieren lassen, aber das war’s. Jetzt hing Winnie neben ihr am Tresen, und sein Hirn baute angestrengt an einer mega catch phrase. Eine hook line mit instant anchoring effect.
»Und? Was machst du so?«
»Ich bin Physikerin und nehme an einem Symposium teil, welches Möglichkeiten der Energieerzeugung durch quantenmechanische Effekte auslotet. Was ist mit Ihrem Gesicht passiert?«
»Ach, das war … just a little miscommunication. Klingt swag, was da bei euch abgeht. Wo ist denn deine Posse? Chillt ihr nicht zusammen nach so nem Event?«
Sonia extrapolierte, was das Gesagte heißen konnte. »Ich bin mit meinem Mentor verabredet.«
»Cool. Mach ich übrigens auch, mentoring … Wann kommt er?«
»Er kam nicht.«
»Ping ihn doch an.«
»Er hat kein Telefon.«
»Dann launch ne search in euren social networks.«
»Man kennt nur sein Werk.«
Sonia flog durch die Protokolle der Panels, die parallel zu denen stattgefunden hatten, die sie besucht hatte. Winnie sah irritiert zu, wie Sonia mit rapiden Augenbewegungen Seite für Seite in Sekundenbruchteilen scannte.
»Sag mal, Symposium … das ist ein chemisches Element, oder?«
»Möglich. In einem Paralleluniversum.«
Sonia sog an dem Tropic Thunder, ohne dass sich der rasend schnelle Wechsel von Webseiten, Tweets und Blogs verlangsamte. Winnie lehnte sich auf den Tresen, um in ihr Blickfeld zu gelangen.
»Du bist so bright. Lass uns reden. All night long.«
»Was würden Sie beisteuern?«
Winnie überlegte. »Lass uns einfach die Bar rauf und runter boozen.«
»Falls mit boozen trinken gemeint ist, mein Körper hat bei der Verstoffwechselung von Ethanol klare genetische Vorteile, zudem addiert der Fettanteil in meinem überproportionierten Brustgewebe eine beträchtliche Toleranz hinzu. Nur für den Fall, dass Sie sich nach dem Rauf und Runter ein Rein und Raus versprochen hatten.«
»Sexy, dass du so straight out bist … Sind übrigens echt krass, deine beiden genetischen Vorteile.«
»Dass ich Russin bin, und was noch?«
»Ah … Du musst mich für einen Höhlenmenschen halten.«
»Eher für ein System geringer Entropie.«
»Ist das gut?«
»Es ist Material niedriger Energie in einem vorhersagbaren Zustand.«
»Das ist schlecht, oder?«
Sonia hängte sich die Handtasche in die Armbeuge. »Das ist gut. Das Symposium fängt früh an. Spokoynoy nochi.«
Winnie sah zu, wie Sonias unfassbare Form den Raum verließ, bis ihm auffiel, dass Aureo ein paar Hocker weiter ihr ebenfalls hinterherstarrte.
Winnie prostete ihm zu. »Cheers! Auf die arrogante bitch mit boobs from heaven!«
Aureos Blick klebte immer noch am Vorhang. »Iste muito intelligente.«
»Na, so wit war die nun auch wieder nicht.« Winnie nahm einen großen Schluck aus Sonias Tropic Thunder. Kurz darauf fühlte er, dass seine Entropie noch einmal deutlich abgenommen hatte.
BÖREK
Spinat. Und Schafskäse, wahrscheinlich.
Paul konnte genau sehen, dass in der Auslage unter dem Butterbrotpapier Börek lagen. Er klopfte an die Scheibe des türkischen Gemischtwarenladens, und als niemand kam, rüttelte er an den Gittern, dass es schepperte.
Irgendwann kam eine ältere, korpulente Frau in Lagen von gemusterten Stoffen aus einem Hinterzimmer. Sie wischte den Boden, aber es sah aus, als ob sie von ihrem Mopp auf monotonen Bahnen durch den Verkaufsraum gezogen wurde.
Paul rief, aber die Frau ließ durch nichts erkennen, dass sie ihn wahrgenommen hatte. Als der Mopp sie nah am Fenster vorbeizog, klopfte und winkte Paul wie wild. Der Mopp hielt, und die Frau sah ihn an. Paul war fleischgewordene Verzweiflung, aber in dem Blick der Frau lag nicht der geringste Antrieb nachzufragen, was er wollen könnte. Als ob er nur ein Fernsehbild war.
Das ist, was von dir übrig ist. Ein Fernsehbild.
Pauls Hunger ließ ihn sich noch eine Weile zum Affen machen, selbst nachdem der Mopp die Tücherfrau längst wieder ins Hinterzimmer gezogen hatte.
Paul lehnte am Gitter. Er hatte noch nie jemanden gesehen, der seine Umwelt so wenig auf sich bezog. Der nur existierte,