Von Herzen. Peter Spans
getragen hatten.
Paul taten besonders die neuwertigen Kleidungsstücke leid, da sie es nicht geschafft hatten, so geliebt und geschätzt zu werden, dass sie über Jahre stolz aufgetragen wurden, anstatt als unliebsamer Ballast in einem Altkleidersack zu landen. Sie taten ihm so leid, dass er sie trösten wollte.
Bei den Nachthemden war es umgekehrt. Sie trösteten ihn. Sie hatten Namen. Paul gab mindestens die Hälfte seines Erbettelten für den Waschsalon aus.
Nicht dass er waschen wollte – er brauchte Gelegenheit, sich getragene Nachthemden zu beschaffen. Das ging am besten in einem Waschsalon, aber dort war er nur unauffällig, wenn er selber wusch.
Da er nicht erkannt werden durfte, redete er mit niemandem, er saß abgekehrt da, zog sich seine Baseballkappe tief ins Gesicht und tat, als ob er konzentriert Zeitung las. Dabei lauschte er den Gesprächen der Studenten, Zeitarbeitenden und Arbeitslosen und stellte sich ab und zu vor, einer von ihnen zu sein, noch dazuzugehören. Irgendwann kam der richtige Moment, eine Runde zu gehen. Paul schielte in die Waschkörbe, und wenn er ein unbeobachtetes Nachthemd sah, ließ er es mitgehen. Zurück in der Werkstatt, redete er es mit dem Namen seiner Besitzerin an, so er ihn aus Gesprächen oder Telefonaten hatte aufschnappen können. Ansonsten dachte er sich einen aus.
Paul hegte große Angst, Fetischist geworden zu sein, aber er beruhigte sich damit, dass es ihn ja schließlich nicht zu getragenen Schlüpfern hinzog. So war es wenigstens keine richtige Perversion, die ihn trieb. Paul brauchte es einfach, dass jemand um ihn war, vor allem nachts, und nichts gab ihm das Gefühl besser, als in einem getragenen Nachthemd zu schlafen. Wenn er die Augen schloss, konnte er riechen, dass Anna, Claudia oder Ulrike bei ihm war.
Leider nahmen die Nachthemden nach ein paar Tagen vollständig seine Gerüche an, sodass er sich wieder alleine fühlte.
Jetzt roch Paul an Babette. Ihr wunderbarer Duft von warmer Haut, Penatencreme und Babyöl war vollkommen dem Gestank von Schimmel gewichen.
Babette war um die vierzig und richtig dick. Paul hatte sich vorgestellt, dass sie eine weiche, lustige Bärenmutter war, die ihre vielen Kinder liebevoll an ihren riesigen Busen drückte, um sie anschließend mit selbst gemachten Köstlichkeiten vollzustopfen. In Babette war er immer voller Vorfreude schnell und tief eingeschlafen, um zu träumen, wie sie ihn vollstopfte, bis er rosig und rund war.
Er brauchte Nachschub. Andererseits wollte er einen würdevollen Tod. Die erste Voraussetzung dafür war, dass er seine Uniform reinigen ließ. Reinigen war teurer als waschen, und man konnte dabei keine Nachthemden stehlen.
Paul rollte die Uniform zu einem handlichen Paket.
Punkt eins. Betteln.
Als Paul aus dem Werkstatttor trat, traf ihn die tief stehende Sonne wie ein Tritt ins Gesicht.
DIEB UND DIEBIN
»Ferien für die Füße! Zwei Paar zum Preis von einem! Wunderschöne Flip-Flops in Hammerfarben, für jede Gelegenheit, in allen Größen!«
Klara fröstelte, rieb sich Arme und Beine. Der Winter war gerade erst vorbei, es wurde schlagartig kalt, sobald die Dämmerung einsetzte. Sie saß auf einer quietschbunten Decke, hatte ihre Ware fein säuberlich um sich herum ausgebreitet und sprach Passanten an, die auf dem Weg nach Hause an ihr vorbeieilten.
»Nur zwei fünfzig das Paar! Bombenqualität! Ganz weich! Damit laufen Sie bis ans Ende der Welt!«
Niemand blieb stehen.
Für Paul war es ein guter Nachmittag gewesen. So schrecklich, wie er aussah, hatte er genug Mitleid erregt, um das Geld für die Reinigung seiner Uniform zusammenzubekommen, und sie abgegeben. Allerdings schrie sein ausgemergelter Körper wieder nach Nahrung, als ob er von innen aufgefressen würde.
Ich hätte nichts essen sollen. Essen macht Hunger.
Am Anfang der ganzen Misere hatte Paul bei einer Obdachlosentafel gegessen. Beim zweiten Mal hatte ihn eine Frau an der Essensausgabe erkannt, mit dem Finger auf ihn gezeigt und sich geweigert, ihm was zu geben. Paul hatte versucht, sie zu beschwichtigen, woraufhin sie so einen Aufstand gemacht hatte, dass ihm die anderen auch nichts mehr geben wollten. Am nächsten Tag hatte Paul sich verkleidet und wieder in die Schlange gestellt, als plötzlich zwei Syrer hinter ihm begannen, hektisch miteinander zu flüstern und sich ständig über die Schultern zu sehen. Sie waren ihm unheimlich gewesen, weil er kein Wort verstanden hatte, und er war beruhigt, als sie kurz darauf verschwunden waren. Stattdessen standen nun zwei dicke Deutsche hinter ihm, die ihn zwei Sekunden später verprügelten, weil er ihnen nicht sofort Platz gemacht hatte.
Von da an war Paul nicht mehr zur Tafel gegangen.
Gedankenversunken wäre er beinahe ins Blickfeld des Golems gelaufen, aber er hatte ihn gerade rechtzeitig gesehen und sich versteckt, um zu sehen, wie der »Handel mit Waren aller Art« lief. Paul musste zugeben, dass Klara alles richtig machte. Sie war motiviert, fantasievoll und sprach die Leute gut an. Aber niemand schien Interesse an bunten Schlappen an einem kalten Frühlingsabend zu haben. Vielleicht sah sie auch einfach zu schräg aus.
Sehr gut. Das heißt, dass sie bald abhaut.
Paul wusste genau, dass die großen schwarzen Spinnenaugen ihn beobachteten. Er wusste genau, dass sie sahen, wenn er in einen ihrer Gänge eintrat und was er da machte. Und er wusste genau, wann er in ihren toten Winkel eintrat. Und da er nur etwas nahm, was darin lag, hatten die Spinnenaugen an der Decke des Supermarktes Paul bisher unbehelligt Nahrung stehlen lassen. Genau an der richtigen Stelle löste er den Klettverschluss an der Seitentasche seiner viel zu warmen Winterjacke, um ein paar Schokoriegel hineinfallen zu lassen.
Jetzt war er genau einer der Typen, die er früher hochgenommen hätte. Aus ihm war ein armseliger Heuchler geworden, ein Pharisäer, der minütlich die Prinzipien mit Füßen trat, für die er früher gelebt hatte.
Heuchelei. Ein Punkt auf deiner langen Warum-ich-mich-töten-will-Liste.
Paul brauchte nicht hinzusehen. Er wusste, dass er gerade in das Blickfeld des nächsten Spinnenauges eintrat. Der Adjutant der Spinne streunte durch den Parallelgang und empfing Spinnenbefehle über einen Knopf in seinem Ohr. Paul umrundete das Ende des Ganges und trat in den nächsten. Er hätte zu gerne eine Jumbotüte Chips mitgehen lassen.
Zu groß, zu laut.
Eine Frau mit einem quengelnden Kind kam ihm entgegen.
Mist!
Um unbehelligt stehlen zu können, war ein leerer Gang vonnöten. Dafür würde Paul einen weiten Bogen laufen müssen, und so, wie er aussah, kreidebleich mit verklebtem Vollbart und einer Kappe tief im Gesicht, zöge er die Aufmerksamkeit des Spinnenadjutanten auf sich.
Dann fiel Paul auf, dass die Frau nur auf ihr Kind einredete, als ob es quengelte. Sie ließ sich Zeit, studierte die Inhaltslisten auf den Produkten, um plötzlich aus heiterem Himmel mit ihrer Tochter zu schimpfen, die nichts Besonderes tat oder sagte. Während jeder ihrer Tiraden beugte sie sich zu ihr hinunter und ließ ein Produkt in ihre große Handtasche fallen. Schlau. Aber sie war kurz davor, in die nächste Spinnenaugenzone zu treten. Paul ging auf sie zu. Hätte er nicht einen Blick dafür, wäre ihm entgangen, dass sie drei weitere Teile eingesackt hatte, bis er in ihrer Nähe war. Er trat seitlich neben sie, nickte zur Decke und murmelte vor sich hin, als ob er ein Selbstgespräch führte.
»Sie sind im Sichtfeld der Kamera da drüben. Aber die hintere Hälfte des Ganges liegt im toten Winkel. Das ist bei den anderen Gängen auch so. Und Achtung vor dem Mann in der schwarzen Jacke. Das ist der Sheriff hier.«
Sie musterte ihn von der Seite, dann flüsterte sie auch. »Wow. Das ist aber … nett. Wissen Sie … ich mach das nur für meine Tochter.«
Das Mädchen sah Paul ausdruckslos an.
»So unter Dieben … Bei wem darf ich mich bedanken?«
»D-Dennis. Mein Name ist Dennis.«
Die