Von Herzen. Peter Spans
das können Sie mir nicht antun. Außerdem sind Sie doch so was von fit.«
»Ja … deswegen bin ich ja auch für Witwenverbrennung. Paare, die so lange zusammen waren wie mein Mann und ich, die sollten nicht auseinandergerissen werden. Ich schimpfe oft mit ihm, was er sich einbildet, einfach vor mir abzuhauen.«
»Aber es ist doch so schön, wie wir hier in der Sonne stehen. Sie haben bestimmt noch ganz viele tolle Jahre vor sich.«
»Wissen Sie, ich seh das mittlerweile auch nicht mehr so extrem. Ich würd auch eine Spritze nehmen.« Frau Mangold umfasste Eckerds muskulösen Unterarm mit beiden Händen. »Aber Sie, Sie sind so ein Löwe.« Dann spähte sie durch die offene Tür in den dunklen Vorraum. »Was bauen Sie denn da Spannendes? Darf ich mal sehen?«
»Wir haben gerade angefangen. Soll ich tragen helfen?«
Frau Mangold hob ihren Trolley an, als ob er leer wäre. »Danke, aber ich bin ja fit. Vielleicht komme ich ja doch bald mal vorbei.«
»Es wäre uns eine Freude.« Eckerd lächelte ihr nach.
SCHLARAFFENLAND
Sie war noch nie wählerisch gewesen. Hier unten war es vielleicht nicht schön, und sie redete sich das auch nicht ein, aber es gab regelmäßig Nahrung. Auch wenn es unbestreitbar bessere Nahrung gab. Allerdings … das, was sich hier gerade vor ihren Augen im Wasser stapelte, war zu schön, um wahr zu sein.
Sie musste nur geduldig sein. Sie musste warten, bis es sicher war. Sie war hier aufgewachsen und wusste, dass mit der Flut nicht zu spaßen war. Sie konnte einen leicht erfassen und in den Tod reißen, wenn man zu gierig war. Sie kannte das. Ihre Eltern waren der Flut zum Opfer gefallen. Außerdem kamen von oben Stimmen.
Stimmen bedeuteten Gefahr.
Also wartete sie und freute sich, dass von da oben winzige Quanten von Licht nach unten fielen und den Schmaus in einen sanften Schein tauchten.
Irgendwann wurde es still. Erfreulicherweise hatte man oben offenbar einen Deckel aufstehen lassen. Die Reste des Lichts, die es entlang der Rohrknicke bis hier unten schafften, reichten ihr vollkommen aus, um zu sehen, denn ihre schwarzen Augen waren hervorragende Restlichtverstärker.
Die Ratte pirschte sich vorsichtig an die Knochenstücke heran, die aus den Abflussrohren um sie herum gefallen waren. Hier, im Hauptkanalisationsrohr, hatten sie sich zu einem stattlichen, duftenden Hügel getürmt.
BABETTE
Das infernalische Dröhnen eines vorbeidonnernden Zuges weckte Paul. Danach war es still. Wirklich still.
Es musste bisher ein sonniger Tag gewesen sein, denn in der Werkstatt war es ordentlich warm, fast heiß, und die Nässe war größtenteils durch das zugige Brettertor entwichen.
Seine Schmerzen hielten sich in Grenzen, einzig seine Hand pochte noch bedenklich.
Bilder kamen zurück. Die Zerstörung des Mannes. Das Blut. Der Tod, der zu einer nervtötenden Göre mutiert war. Das ohrenbetäubende Hämmern. Was für ein beschissener Traum.
Deine Hand pocht.
Paul wagte einen Blick. Seine Hand war übersät mit Schnitten, aber sie waren verschorft – außer an einer Stelle, in der noch eine Scherbe steckte. Paul konnte sie mit den Fingernägeln nicht packen, aber er schaffte es mit den Zähnen und zog sie unter Stöhnen heraus. Die Blutung hielt sich in Grenzen.
Gut. Oder auch nicht.
Es roch lange nicht mehr so schlimm wie gestern. Oder vorgestern? Und irgendwie anders. Offensichtlich hatte der warme Tag den Großteil der Feuchtigkeit aufgesogen.
Nicht weit von Paul stand etwas, das vorher nicht dort gestanden hatte. Ein grellbunter Fremdkörper. Paul robbte näher heran. Eine Tüte. Er drückte sich hoch, öffnete sie und sah hinein. Jetzt konnte Paul den Geruch einordnen, der die anderen überdeckte und ihnen die Schärfe nahm: Es war der Duft von schwarzem Kaffee. Ein XL-Kaffeebecher und etwas Schweres, eingeschlagen in grellbuntes Butterbrotpapier … Ein XL-Sandwich, doppeldaumendick belegt mit Hähnchenfilet, Salat und Tomaten. Paul warf es zurück in die Tüte, knüllte ihren Rand fest zusammen und ließ sich zurück auf die Matratze fallen.
Was für ein billiger Bestechungsversuch! Wie Glasperlen, mit denen man Ureinwohnern ihre Goldschätze abknöpfte! In keinem Fall würde er irgendwas davon anrühren!
Er würde sich umbringen, das stand fest. Dass es bisher an der Ausführung gehapert hatte, änderte nichts an seiner Entscheidung. Ein Kaffee und ein Brot änderten erst recht nichts daran.
Er fühlte die Pappe des Bechers. Der Kaffee war nicht mal mehr heiß. Nein, er würde nichts davon anrühren.
Andererseits … falls sich die Göre noch mal hertrauen würde, dann wollte er in gefechtsfähigem Zustand sein. Nicht die jämmerliche Amöbe von gestern. Wenn er ihr das nächste Mal entgegentrat, musste er stark sein. Damit er sie in die Flucht schlagen konnte, die kleine Golem-Göre.
Es war der beste kalte Kaffee, den Paul je getrunken hatte. Und je mehr Bissen er aus dem Brötchen riss, desto mehr Ärger wuchs in ihm über die Myriaden von Flip-Flops, die ihn in allen Größen und in grellen Farben von den Türen des langen grauen Spindschranks anschrien. Hässlicher Parasitenbewuchs an dem einzigen Platz, an dem er noch sein konnte. Feindliche Übernahme seiner letzten Stätte. Bunt brüllender Hausfriedensbruch.
Noch wütender machte Paul, dass die Werkstatt nicht seine war, dass er nicht die Polizei rufen konnte, die dann die Göre einfach entfernen würde. Ihn würde man abtransportieren, wenn sie anrief.
Die Polizei rufen. Was für eine groteske Vorstellung.
Vielleicht kommt die Göre ja nicht wieder. Vielleicht ist sie ja überfahren worden.
Paul verwarf den Gedanken, als er zu bildhaft wurde.
Eines wurde ihm wieder klar: Sterben war eines, mit einem Rest an Würde sterben ein anderes. Wenn er nicht jämmerlich verrecken wollte, musste er Energie aufwenden, um sicherzustellen, dass sein Tod mit einem Mindestmaß an Würde vonstattenging.
Paul rappelte sich auf, aber ihm war kalt. Der Kaffee hatte gutgetan, aber sein Blutdruck war garantiert besorgniserregend niedrig nach dem vielen Blut, das er verloren hatte.
Seine Uniform sah schrecklich aus.
Ein makelloser Dienstanzug gehörte zu jedem von Pauls Sterbeszenarien. Tot in einer perfekten Uniform aufgefunden zu werden, bewies, wie sehr er seine Arbeit geliebt hatte. Es bewies, wie sehr er die Ideale gelebt hatte, für die sie stand. Es wäre kaum noch zu leugnen, dass das, was alle von ihm dachten, von Grund auf falsch war. Es wäre ein Zeichen, wie sehr er verkannt worden war.
Oder man hielt ihn gerade deswegen für einen perversen Psychopathen. So oder so, wenigstens würde er nach seinen eigenen Maßstäben sterben.
In gewisser Weise war die Uniform der Auslöser für alles gewesen. Ohne sie wäre das, was passiert war, ein bis zwei Tage lang in ein paar Newstickern aufgetaucht. Ein Strohfeuer. Und kein wochenlanger Flächenbrand, mit dessen Ausschlachtung sich alle Medien die Sommerlöcher gestopft hatten. Das Verrückteste an diesem Umstand war, dass alles so eskaliert war, weil er seine Dienstkluft nicht angehabt hatte.
Paul zog die Uniform aus und suchte nach seiner Straßenkleidung. Er hatte sie in einer Ecke mit den Nachthemden zusammen auf einen Haufen geworfen, in der Gewissheit, sie nie wieder zu brauchen.
In der Ecke war es schon muffig feucht gewesen, bevor Pauls depressive Lethargie die Werkstatt in ein Hamam verwandelt hatte. Dementsprechend war der Boden nun von einem schmierigen Film bedeckt, und seine vollgesogene Kleidung verströmte einen scharfen Schimmelgeruch.
Paul hatte seine Kleidung größtenteils von der Kleiderkammer, deren Mitarbeiter eine rustikale Vorstellung von Hygiene hatten; das meiste wurde bestenfalls neu zusammengelegt. Paul war das sehr recht. Die Kleidung verströmte noch die Gerüche ihrer Vorbesitzer,