Von Herzen. Peter Spans
»Wie kannst du dir da so sicher sein?«
»Ein Mensch kann nichts werden, wenn es ihm nicht von Gott gegeben ist. Und ihm war es in keinster Weise gegeben zu erkennen, wo er im Leben stand und welche Chancen er hatte. Es war furchtbar. Du hast doch gehört, wie er spielt.« Eckerd sah traurig aus.
Raphael musste lachen. »Wenn du alle keulen willst, die dieses Problem haben, wirst du ganz schnell einen Tennisarm bekommen.«
»Über so was macht man keine Witze! Der arme Frank tut mir in der Seele weh! Gerade von dir habe ich gedacht, dass du das nachempfinden könntest. Aber vielleicht bist du einfach zu selbstbezogen.«
»Ich? Selbstbezogen?! Bei dem, was ich habe?!«
»Bei dir ist das doch was ganz anderes.«
»Ach ja?!«
»Du hast eine Aufgabe. Du hast Freunde. Du hast Talent. Er hatte nichts davon.«
Raphael war es nicht bewusst, aber er saß auf einmal viel aufrechter. Eckerd sah in die Runde. Er sah Trotz und Wut, aber niemand widersprach. Er wandte sich an Marthe.
»Du warst doch gestern dabei, als er sich abgemüht hat.«
Marthe schaute Eckerd in einer Weise an, dass Raphael Angst bekam, aber Eckerd ließ sich nicht beirren.
»Wir konnten ihm gestern den besten Moment seines Lebens schenken. Für uns war er ein großer Violinist. Er war so unglaublich glücklich. Das war er doch, oder?«
Raphael hatte Angst, dass Marthe gleich aufspringen und ein Messer in Eckerd rammen würde. Eckerd sah jedem nacheinander tief in die Augen.
»Ihr hättet sehen sollen, wie glücklich er war.«
Raphael äffte Franks Grinsen nach. »Sieht man doch.«
Lolita hockte sich an Franks Kopfende. Sein Hinterkopf lag wirklich seltsam flach auf der Platte.
»Also hat er dich darum gebeten, dass du ihm den Schädel zertrümmerst?«
»Ich habe es ganz genau gefühlt. Ich bin mir noch nie so sicher gewesen.«
Raphael massierte sich die Schläfen. »Und wohin jetzt mit ihm?«
Eckerd zeigte auf Raphael. »Sehr guter Punkt! Wie schenken wir Frank einen letzten großen Auftritt? Ich finde, er hat ein großes Finale verdient.«
Raphael schnaubte verächtlich. »Wir stopfen ihm einen Apfel ins Maul und machen Frankferkel aus ihm.«
»Zynisch formuliert, aber gut.«
»Das war n Witz.«
»Das ist perfekt!«
»Also zerlegen und braten.«
»Kürzer hätte ich es nicht fassen können.«
»Und dann servieren.«
Eckerd wirkte ergriffen. »Ich wusste, dass du es verstehst. Du hast erkannt, auf was für eine wunderbare Weise das Sinn macht! Der Einsame geht auf in den anderen Einsamen. Menschen, die er mit seiner Kunst nicht beglücken konnte, beglückt er mit sich. Das ist tief, oder? Gott will abwischen alle Tränen von ihren Augen, und der Tod wird nicht mehr sein. Das ist aus der Offenbarung. Einundzwanzig vier.«
Raphaels Stimme kippte in Hysterie. »Das war ein Witz! Ich werde definitiv keinen Mann zerlegen! Schon gar nicht einen so hässlichen! Das ist total unästhetisch.«
»Wir wissen doch alle, wie fantastisch du kochen kannst.«
»Das ist krank.«
»Du hast es doch vorgeschlagen. Wer mein Fleisch isset und trinket mein Blut, der bleibt in mir und ich in ihm. Okay, das ist ein bisschen hoch gegriffen, weil das Jesus gesagt hat, aber du siehst, wer schon damals den Gedanken hatte. Ist übrigens Johannes sechs sechsundfünfzig.«
»Nein!«
Eckerd dachte nach, dann nickte er schwer und entschlossen. »Wie immer ist hier alles freiwillig. Du kannst gehen, wenn du das möchtest. Aber dann bitte jetzt, auch wenn es mir furchtbar leidtäte.«
Raphael sprang von dem Servierwagen und trat direkt vor Eckerd ins Licht. Sein Gesicht war ledrig verschorft mit Rissen, in denen das Rohe darunter zu sehen war. Die wenigen nicht betroffenen Stellen waren feuerrot vor Aufregung.
»Du weißt genau, dass man mich sofort erkennen würde!«
Lolita hatte sich wieder an das Regal gelehnt. »Warum tust du dann, als ob du eine Wahl hättest?«
»Dann mach du es doch!«
»Bin ich Koch?«
»Ich werde keinen Menschen zerteilen!«
Ein scharfes, metallisches Hacken ließ sie alle zusammenfahren.
Marthe hielt ein Küchenbeil. Alle starrten auf Franks Hand, die sauber getrennt vor dem Armstumpf lag.
Raphael sank zitternd zurück auf seinen Servierwagen und verbarg sein Gesicht in den Händen.
»Oh Gott. Wir wandern alle in den Knast.«
Lolita zündete sich eine Zigarette an.
»Sagtest du nicht mal, du magst es da?«
»Die töten mich da, so wie ich aussehe. Wir gehen alle in die Hölle.«
Eckerd wirkte größer.
»Der gute Markus sagte schon, alle Dinge sind möglich dem, der da glaubt. Wir gehen nirgendwo hin. Nicht ins Gefängnis, nicht in die Hölle. Wir sind von ihm beschützt, denn das, was wir tun, ist, was er will.«
»Das glaubst du doch selbst nicht.«
»Klar glaube ich das. Aber das Beste ist: Ich weiß es. Also wollen wir, bevor er verdirbt?«
Raphael schlug auf das Blech des Servierwagens ein.
»Scheiße! Aber wir machen das nie, nie wieder! Versprich, dass das nie wieder vorkommt!«
»Wollen wir?«
Lolita blies Rauch aus.
»Hatten wir uns nicht geeinigt, dass ich meinen Teil zahle und dafür keine Küchendienste leiste?«
»Es ist alles freiwillig hier. Aber ich fände es furchtbar, wenn wir dich verlieren. Andererseits: Was du tust, kannst du auch woanders tun. Aber es ist das Letzte, was ich möchte.«
Lolita hob stolz den Kopf.
»Was soll mit den Knochen passieren?«
Eckerd wandte sich zum Gehen.
»Das überlasse ich eurer Kreativität.«
Raphael konnte nur noch krähen. »Du gehst?«
»Das war ein gewaltiger Tag heute. Ich muss mich sammeln.«
Sie starrten Eckerd hinterher, bis Marthes nächster Hieb sie zusammenzucken ließ. Franks Fuß stand neben seinem Bein.
Frank lächelte.
FRAU MANGOLD
Eckerd trat vor das Von Herzen und reckte sich.
Die Triebe der Bäume begrüßten den ankommenden Frühling. Er schloss die Augen und atmete die sanfte Luft. Nur gedämpft drang das Hacken und Klopfen der Beile, Hämmer und Messer aus der Küche durch die offene Tür zu ihm.
»Was basteln Sie denn Schönes?«
Eckerd sah auf Frau Mangold hinunter, die sich auf einen mit Einkäufen vollgestopften Trolley stützte. Sie wohnte im Haus nebenan, das ihr gehörte, genauso wie das Haus des Von Herzen.
»Ich find das toll, was Sie hier so machen. Sie haben das Haus so schön herausgeputzt. Wie ein Varieté. Ist es ein Varieté?«
»Kommen Sie uns doch mal besuchen.«