Von Herzen. Peter Spans
Ritzen seine Inspiration bisher zu ihm sprechen musste. Jetzt hatte er sie auf einmal ganz. Goldglitzernde Funken sprühten aus unbekannten Räumen hinter seinen Augen in sein Blickfeld und nahmen ihm die Sicht auf jede Beschränktheit. Die Kiste seines Bewusstseins erweiterte sich zu einer Halle von schwindelerregenden Ausmaßen, viel größer als sein Ziel, das plötzlich winzig wurde.
Es verblasste immer mehr, und es war in Ordnung. Als ob er eine Stufe übersprungen hatte. Als ob er längst alles hatte, nach dem er strebte.
Frank war, weil er war, und nicht, weil er etwas sein wollte.
Es würde offen bleiben müssen, ob aus ihm ein großer Violinist geworden wäre.
Aber wenn er ganz ehrlich zu sich war, hatte er nie gerne geübt und war froh, es nie wieder tun zu müssen.
Frank war frei.
DAMALS : JOSEF
Jesus sah in sanfter Agonie auf das Abendessen der Familie von Herzen herab, auf die vier Rotschöpfe, die ihre Hände zum Gebet gefaltet hatten, geschart um einen weiß eingedeckten Esstisch mit fünf Tellern und einem stattlichen, dampfenden Schweinebraten in der Mitte.
»Vater unser, der du bist im Himmel …«
Elmar betete sein wortgestrenges Vaterunser so eindringlich, als ob er einen okkulten Zauber einleiten würde. Bernhard murmelte irgendwas mit und ließ Pausen, wenn Elmar sie ließ, Marthes Mund formte lautlos die Worte der anderen.
Nur Eckerd stimmte mit einer Inbrunst in das Gebet ein, die alle übertönte. »…geheiligt werde dein Name …«
Der fünfte Teller lag zwischen Eckerd und Bernhard. Es war Colettes Teller.
»… zu uns komme dein Reich …«
Colettes Teller hatte Staub gefangen, genauso wie der silberne Bilderrahmen, der auf ihm stand. Er trug das Bild einer aparten Schwarzhaarigen mit aristokratisch spitzer Nase, geschürzten Lippen und störrischen Zügen. Bernhards trauriger Blick klebte an ihr.
»… dein Wille geschehe …«
Colettes Augen waren auf einen schwarzen Trauerflor aus Spitze gerichtet, den man an den Bilderrahmen geklebt hatte, und es sah aus, als ob er ihr nicht gefiel. Aber Colette hatte generell wenig gefallen.
Eckerds Stimme bebte unter dem Gewicht seiner Worte. »… wie im Himmel, also auch auf Erden. Unser täglich Josef gib uns heute …«
Elmar schlug mit der flachen Hand auf den Tisch.
Eckerd zuckte zusammen, doch dann setzte er sich gerade auf, um größer zu wirken. »Ich weiß, wir sind Schweinebauern, und mit Essen spielt man nicht. Aber können wir nicht wenigstens zwei für die Show lassen?«
»Nein.«
»Ich werde Zirkusdirektor. Dann müsst ihr keine Schweine mehr keulen, und ich muss nicht immer von vorn anfangen.«
»Eckerd.«
»Ja, ich weiß. Iss deinen Josef.«
Elmar sah Bernhard verächtlich an. »Da siehst du, was du alles falsch gemacht hast.«
Bernhard sah aus, als müsste er dringend schlafen. »Er versucht nur, mit der Sache umzugehen.«
»Mit was für einer Sache?«
»Dass du ausgerechnet ein Schwein aus seiner Show keulen musstest.«
»Das reißt sonst noch ein mit diesen Shows.«
»Du sagst ihm jetzt was Aufmunterndes.« Bernhard zischte in Elmars Ohr, wie er es sich sonst nicht traute. »Sofort.«
Elmar zischte zurück. »Sonst was? Du machst hier nichts außer trauern.«
»Sag ihm was Nettes, oder du fährst morgen alleine Heu ein.«
Elmar kämpfte mit sich, dann senkte er seine Stimme eine halbe Oktave zu einem großväterlichen Bariton. »Schau, Eckerd … Wir keulen die Schweine nicht einfach nur so. Wir bringen sie in den Schweinehimmel. Schweine sind eigentlich Himmelswesen. Sie mögen es hier auf der Erde nicht besonders. Es macht sie traurig. Und wenn die Trauer ein Schwein besonders schlimm erwischt, keulen wir es, und seine Seele schwebt nach oben in den Schweinehimmel.«
Bernhard verdrehte die Augen. »Wirklich unglaublich aufmunternd.«
»Ich fand das toll damals.«
Eckerd stocherte in Josef.
»Das habe ich nicht gewusst, Opa. War Josef so traurig? Ich dachte, wo wir jeden Tag zusammen geübt haben …«
»Glaub mir, mit der Zeit bekommt man einen Blick dafür.«
»Armer Josef.« Eckerd stand auf und drückte Elmar so fest er konnte. »Danke Opa. Danke, dass du ihm geholfen hast.«
Elmar erstarrte unter Eckerds Umarmung, als sich sein Blick mit dem von Bernhard kreuzte. Eine Zeit lang herrschte Schweigen.
Eckerd ließ Elmar los. »Haben wir Mama eigentlich auch gegessen?«
Elmar sprang auf und starrte auf Bernhard herab. »Das reicht! Wenn du aus deinem Sohn keinen ordentlichen Schweinebauern machen kannst – ich kann.«
Bernhards rot geränderte Augen suchten Hilfe bei Colette, aber sie sah nur den Trauerflor, der ihr nicht gefiel. Bernhard räusperte sich. »Er verarbeitet die Dinge. Das ist doch … gut.«
»Eckerd, morgen um sieben machen wir einen Schweinebauern aus dir. Im Schuppen.«
Eckerd tauschte Blicke mit Marthe. Er verschränkte die Arme. »Ich werde Zirkusdirektor.«
Elmar wechselte in einen Ton, dem man nicht widersprach. »Punkt sieben.«
DAMALS : ELMAR
»Können wir eine aufmachen? Bitte!« Eckerd und Marthe sahen Elmar flehentlich an.
Er nickte. Zehn Kokosnüsse lagen auf dem groben Holztisch in der Mitte der Scheune. Elmar gefiel nicht, dass Marthe dabei war, aber Eckerd hatte darauf bestanden, und sie hatte sich nicht verscheuchen lassen.
Das große, offene Scheunentor bot einen herrlichen Blick auf die weiten Wiesen, auf denen die Schweine in der aufgehenden Sonne ihre Nasen durch das betaute Gras pflügten.
Elmar stellte eine alte, längliche Holzschatulle vor Eckerd auf den Tisch. Sein Blick verklärte sich, als seine Finger die Furchen der Bauernschnitzereien nachfuhren.
»Weißt du, was das ist?«
»Der Kasten, den ich nicht anfassen soll.«
Elmar legte eine Hand auf Eckerds Schulter. Er lächelte milde. »Heute darfst du ihn anfassen. Du darfst ihn sogar aufmachen.«
»Echt?«
Elmar nickte.
Ehrfürchtig schob Eckerd den Deckel auf. »Das geht ja ganz leicht.«
»Weil er schon so oft aufgemacht worden ist. Von meinem Vater und davor von seinem Vater. Und davor … schau hinein.«
Eckerd stellte sich auf die Zehenspitzen und sah in die Schatulle.
Auf einem Bett aus Sackleinen lag eine mehr als unterarmlange, gedrechselte Keule. Ihre Form war ihrer Aufgabe perfekt angepasst, mit einem Griff, der sich in der Mitte verdickte, um Fingern und Daumen guten Halt zu bieten, und einem kleinen Heft, damit man die Keule nicht zu weit in der Mitte fasste. Das Schlagende der Keule war doppelt so dick wie der Griff, den ein Knauf aus weißem Porzellan zierte. Er hatte die Form einer Schweinenase.
Elmar leuchtete vor Enthusiasmus. »Das ist das Zepter eines Schweinebauern.«
»Was ist ein Septa?«
»Ein Zepter ist eine Krone für die Faust. Nimm sie.«
»Ehrlich?«
Elmar nickte gütig.