Von Herzen. Peter Spans
unter Ächzen auf die Kante und ließ sie auf die andere Seite fallen, ohne dass sich Klara in irgendeiner Weise ablenken ließ. Die Rückseite der Matratze war genauso spakig wie die Vorderseite, aber sie stank nicht so sehr. Paul warf sich wütend darauf. Und schrie.
Das nadelspitze Ende einer Sprungfeder, deren Verankerung abgerostet war, hatte sich tief in seinen Oberschenkel gebohrt. Klara sang das nächste Mantra. Paul zwang sich, nicht zu stöhnen, bis er sich in die Richtung gewunden hatte, in der der rostige Dorn der Bettfeder aus seinem Fleisch sprang.
Du stirbst an Wundstarrkrampf. Dahingerafft von einer Bettfeder. Was für ein bescheuertes Ende! Dahingerafft von der Feder des Todes. Fe-des-To.
Paul presste die Hand auf die Wunde und rollte sich an den Rand der Matratze.
Der Golem muss weg!
Er könnte Klara an den Haaren aus der Werkstatt zerren. Aber schwach, wie er war, würde sie ihm wahrscheinlich in die Eier treten und weglaufen. Das wäre schmerzhaft, aber sie wäre erst mal weg. Nur dass sie dann irgendwem wilde Geschichten erzählen würde. Und irgendwer würde dann kommen, und das wäre schlecht.
Er könnte auch einfach warten, bis sie eingeschlafen war. Am Fuß der Werkbank stand ihr Rucksack. Würde er darin ihre Adresse finden, würde er ihren Eltern einen Besuch in Dienstkleidung abstatten und sie ordentlich einschüchtern. Er würde ihnen einen gehörigen Text über ihre schräge Tochter erzählen, sie würde lange Hausarrest bekommen und die Lust verlieren, wiederzukommen. Zu viel würde.
Er könnte sie einfach im Schlaf erschlagen. Mord wäre nur ein weiterer Punkt auf der Warum-ich-mich-töten-will-Liste. Und als angehender Selbstmörder war er ja ohnehin bereits eine Art Mörder. Allerdings, wenn er sie und etwas später dann sich umgebracht hatte und man sie beide fand, würde man etwas folgern, von dem er auf keinen Fall wollte, dass es gefolgert wurde. Außerdem wollte er mit niemandem gefunden werden, schon gar nicht mit ihr.
Paul schwor sich, wach und wütend zu bleiben.
Zwei Minuten später ließ ihn Klaras monotoner Singsang wegdämmern.
Eine Zwölfjährige umbringen.
Im Traum stand Paul auf einem düsteren, endlosen Schrottplatz, von dem er wusste, dass es seine Seele war.
SAUDADE
Sonia hatte die Bedeutung des Größenunterschieds unterschätzt. Seit mehreren Minuten tanzte sie eng umschlungen mit dem Südländer, und der Größenunterschied hatte ihre Konversation im wahrsten Sinne erstickt. Nicht dass sie interessant gewesen wäre, aber der Südländer hatte bisher keinen Versuch unternommen, sich oder sein Tun vorzustellen. Er war einfach abgetaucht. Sonia startete einen Standard.
»Wo kommen Sie her?«
Der kleine, kompakte Mann zog sein gebräuntes Gesicht aus Sonias atemberaubendem Dekolleté.
»Vone meine Jaht.«
»Mir war nicht bekannt, dass diese Stadt einen Hafen hat.«
Aureo grinste Gold. Seine gesamten Zähne bestanden daraus.
»De Jahte hate Helikopta.«
Sie drehten sich einige Male wortlos.
»I eisse Aureo. Wie eisse du?«
»Sonia.«
»Ssonia … wie Ssonne?« Aureo sprach mit Sonias Busen, dessen Form und Größe jenseits glaubwürdiger Natürlichkeit lag. »Ssage Ssonia …«
»Ist echt. Was machen Sie hier?«
Aureo presste die Lippen zusammen wie einer, der nicht weinen möchte, seine buschigen Augenbrauen trafen sich an der Nasenwurzel zu einem bittersüßen Rendezvous.
»De Saudade. Iste faste wie ssu Hause.«
Aureo schmachtete Sonia an. Sie nickte. Glücklich bettete er seine Wehmut zurück in ihren Busen.
Nach weiteren sprachfreien Umdrehungen fischte Sonia ihr Smartphone hinter Aureos Rücken aus ihrer Handtasche, parkte einen Arm auf seiner Schulter und gab Saudade als Suchwort ein.
Die Freude, traurig zu sein.
Sie lauschte dem gehauchten Tango der seltsamen Band, dem sinnlichen Schmerz, der aus ihren Instrumenten tropfte, und der rauchigen Qual ihrer Sängerin.
Nachvollziehbar.
Sonia fand es seltsam, dass es in ihrer eigenen Sprache kein solches Wort gab. Melancholie war Teil ihrer Volksseele. Obwohl, eigentlich war es blanke Schwermut.
»Dann sind Sie also Portugiese.«
»Brasileiro. Woe komme due her?«
»Sankt Petersburg.«
Aureo steckte zwischen ihren Brüsten und kam offenbar zu keinem Ergebnis.
Sonia half. »Russland.«
Aureo tauchte auf. »Aber du sprecke Alemão wie Alemão.«
»Ist ja nicht schwer.«
»Aber du sprecke sso gut. Seite wane sprecke du?«
Sonia rundete auf. »Zweiundfünfzig Stunden.«
Aureo war sicher, nicht richtig verstanden zu haben, aber er hatte sowieso das Gefühl, dass Sonias Horizont deutlich breiter war als seiner, und mochte nicht weiter nachfragen.
»Wasse mache du hiere?«
»Ich nehme an einem Symposium der Quantenphysik teil.«
»Was iste dase?«
»Ein Treffen von Leuten, die sich mit sehr kleinen und sehr großen Dingen beschäftigen.«
Aureo wurde traurig. Er würde nicht begreifen, was Sonia meinte, selbst wenn sie perfekt Portugiesisch spräche. Glücklich darüber, traurig zu sein, tauchte er sein schweißperliges Gesicht zurück in ihren perfekt gewölbten Samt, wo die traurige Gewissheit seiner Begrenztheit neue Dimensionen annahm und sein Herz zu sprengen drohte. Sachte schob er sie von sich. Sonias Arm fiel von seiner Schulter.
»Was ist los?«
Aureo hatte Tränen in den Augen. »Is werde di immer liebe, Ssonia. Aber i bine ssu … dumm.«
»Bisher hat es nicht gestört.«
Aureo wandte sich ab. »Tute mire leide. Es musse seine.« Er schlang die Arme um sich, schwelgte im Tango und schluchzte vor sich hin.
Sonia wartete noch einen Moment, ob er seine Meinung änderte, dann ging sie an die Bar.
Aureo war unglaublich glücklich, dass er so unglaublich traurig sein durfte. Er hatte die größte Liebe seines Lebens gefunden und die Kraft gehabt, sie gehen zu lassen. Ein so großer Intelligenzunterschied war unabänderlich, aber keiner von beiden hatte Schuld daran. Ihre Liebe war auf ewig zukunftslos. Ab jetzt würde Aureo es immer fühlen, dieses zehrende Verlangen, das so viel stärker war als irgendein Leben zu zweit, welches sich zwangsweise abnutzen und letztlich in monotonem Grau versinken würde. Seine große Liebe Sonia. Auf ewig würde sie sein Herz zum Rasen bringen. Für immer würde sie der Stein im Schuh seiner Seele sein. Es war herrlich. Er würde die Sehnsucht nie wieder suchen müssen.
»Zweihundert.«
Lolita ragte neben Aureo auf. Er sinnierte, schließlich zog er zwei Hunderter aus einer weit aufgebogenen Geldklammer, umschloss ihre Taille und drückte sein Gesicht auf ihr Bustier. Das Korsett war hart wie ein Harnisch, und die ledernen Schnüre pressten Rauten in sein Gesicht. Der Schmerz von Verlust nahm neue Dimensionen an.
Sonia bestellte Wodka. Sie musste zugeben, dass sie Aureos Reaktion nicht hatte kommen sehen, nicht einmal als Möglichkeit in Betracht gezogen hatte. Seltsames Ding, diese Saudade. Unberechenbar, und doch nachvollziehbar.
Sonias Hand fuhr unter ihre Perücke, um den Kopf zu kratzen.