Der Bullerbü-Komplex. Lars Mandelkow

Der Bullerbü-Komplex - Lars Mandelkow


Скачать книгу
von außen nicht so leicht erkennbar. Das Bullerbü-Bild überstrahlte schnell das andere, das wahre.

      Ich schreibe dieses Buch mindestens zur Hälfte also auch für mich, so wie jede Therapiestunde, die ich gebe, auch immer eine Frage nach mir selbst ist, und jede Predigt, die ich halte, auch eine Botschaft an mich selbst enthält. Ich schreibe nicht als einer, der endgültig Bescheid weiß. Eher als einer, der den Erwartungsdruck und die Macht der inneren Bilder kennt. Der weiß, dass die eigenen Kräfte nicht so grenzenlos sind wie die eigenen Wünsche. Aber auch als einer, der glaubt, dass das Mögliche schöner ist als das Perfekte. Und dass man auch ruhig mal was versuchen darf. Zum Beispiel, ein Buch zu schreiben.1

      imageEinleitung Die Blick-winkel dieses Buches

       [ Zum Inhaltsverzeichnis ]

image

      Ein kleiner Rat vorweg

      Glauben Sie nicht einfach, was Sie lesen. Alles ist nur unter bestimmten Voraussetzungen richtig und aus bestimmten Blickwinkeln. Dieser Autor, diese Zeit, diese Kultur – alles spielt eine Rolle. Machen Sie den Test: Schlagen Sie willkürlich eine Seite dieses Buches auf, lesen Sie ein paar Zeilen und stellen Sie sich vor, was eine junge Frau in den Slums von Rio de Janeiro darüber denken würde oder ein alter russischer Bauer. Oder Ihre Mutter. Ich mache Ihnen Mut, sich Ihre eigene Meinung zu bilden, Ihren eigenen Standpunkt zu finden. Insgesamt gilt beim Lesen des ganzen Buches die herzliche Einladung, nicht einverstanden zu sein!

image

      MODERNER FAMILIEN

      Ich habe »Bullerbü« als Hauptbild dieses Buches gewählt, weil dieser Ort wie kaum ein anderer die Sehnsüchte einer Familiengeneration in sich vereint. »Bullerbü« ist so etwas wie das Poesiealbum heutiger Eltern, angefüllt mit schönen Bildern von glücklichen Kindern und einem einfachen, sinnvollen Leben.2 Überhaupt scheinen wir Deutschen dazu zu neigen, uns das ganze Land Schweden wie ein einziges »Groß-Bullerbü« vorzustellen, in dem das Leben leicht, die Natur heil und die Menschen frei sind – so jedenfalls beschrieb es 2007 der Leiter des Stockholmer Goethe-Institutes. Sein Artikel darüber im Svenska Dagbladet führte sogar dazu, dass der Begriff »bullerbysyndromet« vom schwedischen Sprachrat in den schwedischen Wortschatz aufgenommen wurde.3 Bullerbü war und ist also ein deutscher Sehnsuchtsort und eignet sich hervorragend als Bezugspunkt für viele Fragen, die Familien heute beantworten müssen:

      image Wie sollen wir unsere Kinder erziehen?

      image Wie wollen wir als Familie gemeinsam unseren Alltag gestalten?

      image Welchen Platz soll die Arbeit im Familienleben haben?

      image Wie können Ehe und Partnerschaft unter den heutigen Umständen gelingen?

      Dieses Buch will dabei helfen, Antworten auf diese Fragen zu finden. Und zwar solche, die auch noch tragen, wenn das Leben mal komplizierter ist als in Bullerbü.

      Die erste Frage sollte allerdings lauten: Was ist das für eine Welt, in der wir unsere Familien gründen und durch die wir unsere Leben steuern. Hier gibt es einige Glanzbilder zu entlarven und kritische Anmerkungen zu machen, denn nicht alle Kräfte, von denen unser Leben geprägt wird, sind hilfreich.

      Ich habe den Hauptteil dieses Buch in drei Teile gegliedert. Der erste Teil endet mit einer Art Diagnose, der Beschreibung einer Störung: dem »Bullerbü-Komplex«. Dieser Komplex ist eine typische Reaktion vieler Eltern auf die Anforderungen und Wünsche unserer Zeit. Er entsteht bei dem Versuch, in dem oft heil-losen Durcheinander unserer Gesellschaft eine heile Welt herzustellen.

      Im zweiten Teil möchte ich nach Möglichkeiten suchen und einen Vorschlag machen, wie Familienleben gesünder sein kann: »Lass es gut sein!« – Wie kann uns dies in den vier großen und zentralen Bereichen des Familienlebens gelingen? Wie können wir es gut sein lassen, in der Erziehung unserer Kinder, in Partnerschaft und Familie, mit der Arbeit? Und ist diese Art, als Familie zu leben, wirklich besser, als ehrgeizige Ziele zu verfolgen?

      Im dritten Teil wird es um das Weltbild gehen, das hinter diesem Lösungsvorschlag steht. Wie können Menschenbild und Gottesbild uns dabei helfen, all diese »Lass es gut sein«-Fragen zu beantworten?

      Ein entlastendes Wort gleich zu Beginn: Wenn es Ihnen mit Ihren Kindern, in Ihrer Partnerschaft und mit Ihrer Arbeit einigermaßen gut geht, dann machen Sie ganz gewiss schon sehr viel richtig, bewusst oder unbewusst. Viele tun das. Ich schreibe dieses Buch, um Menschen zu entlasten, die sich im Familienalltag unserer Gesellschaft unter Druck gesetzt fühlen. Es geht mir darum, diejenigen zu bestätigen, die sich bereits jetzt schon dafür stark machen, dass es in den meisten Bereichen des Lebens angemessener ist, gut genug zu sein, anstatt immer besser werden zu wollen. Es gibt zum Glück immer mehr von solchen Menschen. Immer mehr, die sich dem Sog der Photoshop-Wirklichkeiten entziehen und die dem Druck der Selbstoptimierungsindustrie ausweichen.

      Aber seien wir ehrlich mit uns selbst: Begriffe wie »sich entziehen« und »ausweichen« klingen nicht sehr selbstsicher. Ist es nicht eher an der Zeit, dass wir selbstbewusster auftreten und lauter werden, indem wir klar und deutlich sagen: »›Weniger ist mehr!‹ und ›Gut genug ist völlig ausreichend!‹ Der Slogan ›Immer besser!‹ tut uns allen nicht gut«?!

      Vielleicht stimmen Sie mir zu. Vielleicht sind Sie auch kritisch und denken: Ja, der hat gut schreiben. Aber ich möchte Sie herausfordern: Begeben Sie sich mit mir auf eine Entdeckungsreise – hinein in all diese Fragen, Gedanken und Ansätze. Seien Sie neugierig, hinterfragen Sie, seien Sie kritisch. Bilden Sie sich Ihre eigene Meinung.

      THEOLOGIE UND PSYCHOLOGIE

      Vielleicht haben Sie sich schon gefragt, wer sich hinter diesem Buch verbirgt. Denn schließlich macht es einen Unterschied, ob ein Autor Atheist, Tierrechtler, Nationalsozialist oder Demokrat ist. Aus welcher Ecke also kommt dieses Buch, welche Gedanken liegen ihm zugrunde?4

      Ich habe evangelische Theologie studiert, weil ich Pastor werden wollte, habe Psychologie studiert, weil ich mich für Seelsorge interessiert habe, und war letztendlich froh über dieses zweite Studium, als ich mich aus einem gut gegarten Eintopf von Gründen dazu entschieden habe, doch nicht Pastor zu werden. Gelandet bin ich als Psychologe dennoch oft in der Nähe von Kirche und Diakonie, wo Sinn- und Glaubensfragen in Therapie und Supervision noch offensichtlicher eine Rolle spielen, als sie es überall sonst auch tun: Ich habe einen ambulanten Hospizdienst organisiert, eine christliche Beratungsstelle für Ehe-, Lebens- und Familienfragen mitbegründet, habe viele Einzelne und Paare beraten und begleitet, Kommunikationskurse für Paare geleitet, war Supervisor in diakonischen Einrichtungen und habe Ärztinnen und Ärzte in Palliative Care ausgebildet. Bei allem ging es immer wieder um existenzielle Fragen, um lebensbedrohliche Erkrankungen und Sinnkrisen, aber auch um den ganz normalen Wahnsinn des Familien- und Berufslebens.

      Ich glaube, dass beides zusammenhängt: Die Art und Weise, wie wir den ganz normalen Wahnsinn bewältigen oder auch herstellen, und diese tiefer liegenden Fragen nach dem Sinn des Lebens, über die wir oft gar nicht so bewusst nachdenken. Insofern ist dieses Buch auch eine Art Zwischenergebnis, eine Sammlung von (vorläufigen) Erkenntnisse, die aus der Begegnung mit vielen unterschiedlichen Menschen


Скачать книгу