Der Bullerbü-Komplex. Lars Mandelkow

Der Bullerbü-Komplex - Lars Mandelkow


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ein guter Ehepartner und Vater von vier Kindern zu sein – mit wechselndem Erfolg. Vielleicht stellen Sie sich genau wie ich Fragen wie: Was ist eigentlich meine Verantwortung als Vater (oder Mutter)? Wie geht überhaupt Ehe? Wie sieht eine gute Balance zwischen Familie und Arbeit aus – oder gibt es daneben gar noch etwas anderes? Ist das gut genug, was ich hier versuche?

      Viele Situationen spreche ich in dem Buch auch nicht an, entweder weil ich weder Wissen noch Erfahrung in diesen Bereichen habe oder weil sie alles viel komplizierter machen würden: Ich spreche nicht von der Situation von Familien, die mit Armut oder gesellschaftlicher Ausgrenzung zu kämpfen haben, ich spreche nicht von gleichgeschlechtlichen Partnerschaften (obwohl vieles, was mit Liebe, Partnerschaft und Familie zu tun hat, hier genauso gilt) und auch extreme Belastungen wie Gewalt oder Sucht kommen nicht zur Sprache. Der Fokus des Buches liegt auf dem, was ich als Familienvater und Therapeut als normal erlebe – und das mag für manche natürlich auch deutlich von der eigenen, ganz persönlichen Normalität abweichen.

      Wenn man nun wie ich Psychologie und Theologie studiert hat, kommt es zu einer hochinteressanten Spannung: Die Theologie kreist als Wissenschaft um den christlichen Glauben. Seine Geschichte, seine schriftlichen und philosophischen Grundlagen, seine praktische Umsetzung und Bedeutung werden von allen Seiten beleuchtet. Die Scheinwerfer der Theologie leuchten auf eine unsichtbare Wahrheit. Aber wenn das gut geht, entsteht durch dieses viele Leuchten wie auf der Leinwand in einem Schattentheater die Botschaft von einer Hoffnung, die unser Leben bis über den Tod hinaustragen kann. Diese Geschichte hat einen tiefen Wahrheitsanspruch.

      Die Psychologie, die Wissenschaft vom Verhalten und Erleben, kümmert sich dagegen um viel irdischere Wahrheiten: um Gefühle und Beziehungen, um Gedanken und Verhaltensreaktionen der Menschen in ihren Lebenswelten. Die biologischen Grundlagen von Erleben und Verhalten, und hier vor allem das Gehirn, spielen dabei eine entscheidende Rolle. Auch die Psychologie hat Hoffnung im Angebot, allerdings in viel begrenzterer Form: Hoffnung auf ein leichter gelingendes Leben im Hier und Jetzt. Es geht nicht um große Wahrheiten und eigentlich auch nicht um die Seele, obwohl »Psychologie« wörtlich übersetzt »Seelenlehre« bedeutet. Aber nach gut 150 Jahren psychologischer Forschung sind sich eigentlich alle einig: Die eine Wahrheit gibt es nicht. Und zur Existenz einer Seele schweigt die Psychologie. Sie konzentriert sich auf unsere ganz persönlichen Wahrheiten: In einem fantastisch bunten Prozess von Erwartungen, Bedürfnissen und gerichteter Aufmerksamkeit, geprägt von unserer Kultur und unseren ganz persönlichen Erfahrungen nehmen wir den beständigen Strom der Sinneseindrücke auf und bauen daraus diejenige Wahrheit, die gerade am meisten Sinn ergibt.

      Wie lässt sich aber auf dieser Grundlage über den christlichen Glauben und seinen Wahrheitsgehalt und -anspruch nachdenken? Was wird aus der tiefen Glaubenshoffnung, was bleibt von Glaube, Hoffnung und Liebe (1. Korinther 13,13) in der Sprache der Psychologie? Psychologie und Theologie stehen in einer Spannung, aus der sich Energie gewinnen lässt. Hier lohnt es sich, aus beiden Richtungen, der theologischen und der psychologischen, einen Blick auf die Hoffnung und die daraus entstehenden Hoffnungsbilder zu werfen – denn auch bei der Sehnsucht nach Bullerbü geht es letztlich genau darum: Bullerbü – das ist das Konzentrat einer Hoffnung, ein Ideal- und Hoffnungsbild für das Familienleben. Wir werden jedoch schnell merken: Auch wenn wir Hoffnung brauchen, sie für uns lebensnotwendig ist, so ist doch nicht jedes Hoffnungsbild gleich gut für uns.

      Hoffnung ist lebensnotwendig

      Das Schöne mit uns Menschen ist, dass wir mit mehr als nur einer Wirklichkeit herumlaufen. Wir leben nicht nur hier und jetzt. Wir leben auch in einer Zukunft, die es noch nicht gibt. Und die oft besser ist als das, was gerade passiert. Eine positive Zukunft für möglich zu halten ist das, was sich »Hoffnung« nennt. Und es ist eine der größten Kräfte, die die Welt kennt. Nomaden sind zu Siedlern geworden in der Hoffnung auf ein sichereres Leben ohne Hunger. Menschen haben Kontinente entdeckt in der Hoffnung auf Freiheit. Ausbildungen werden begonnen, Ehen geschlossen, Hilfsorganisationen gegründet, Gemüse gepflanzt, Parteien gewählt, Kinder erzogen – alles mit Hoffnung. Die Vorstellung, dass morgen etwas Gutes kommt, gibt uns Kraft für heute. Auch wenn es heute nicht ganz so gut läuft mit dem Weltfrieden, dem Gemüse, den Parteien oder den Kindern. Ohne ein gutes Bild für morgen würden wir wahrscheinlich einfach aufhören, überhaupt irgendetwas zu tun.

      Und wie schön ist es, zu erleben, wenn eine Hoffnung von gestern eine Wirklichkeit von heute wird – wenn die Zahl der Drogentoten sinkt, wenn eine Ausbildung abgeschlossen ist, wenn Plastikbesteck verboten wird, wenn ich es wirklich geschafft habe, mit dem Rauchen aufzuhören. Jedes Mal ist das die Bestätigung einer Hoffnung von gestern. Und Grund genug für mindestens eine neue Hoffnung für morgen. Und wenn man sich die Welt so ansieht, brauchen wir noch jede Menge davon. Natürlich ist nicht jede Hoffnung gleich wichtig und nicht jedes Hoffnungsbild ist gleich gut. Manche haben sich als schädlich erwiesen, zum Beispiel die Hoffnung auf Glück durch Besitz. Manche als Lügen, zum Beispiel die Hoffnung auf die Überwindung einer tödlichen Krankheit durch teure Therapien in Spezialkliniken – Lebenslotterie. Und manche sind auch einfach belanglos. Es lohnt sich, die eigenen Hoffnungen einmal auf ihre Güte abzuklopfen.

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      Kurztherapie

      Zeichnen Sie eine Waage. Auf die eine Seite kommen ihre Befürchtungen, auf die andere ihre Hoffnungen. Wie sieht das Bild aus?

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      Wenn Ihnen zu viele Befürchtungen einfallen, konzentrieren Sie sich am besten auf diejenigen, die hier und jetzt von Bedeutung sind – wie viele bleiben übrig?

      Und falls Sie gedacht haben, dass Sie schon genug Hoffnungen haben, wenn die Waage im Gleichgewicht ist, haben sie falsch gedacht. Diese Waage darf gern schief sein. Hoffnungen kann man gar nicht genug haben. Besonders wenn sie von hoher Güte sind.

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      Manche meinen, mit Hoffnungen sollten wir grundsätzlich kritisch umgehen. Sie meinen, Hoffnungen bergen die Gefahr, dass sie von der Gegenwart ablenken, ja sogar das Gute verhindern können – sie verweisen zum Beispiel auf die jahrhundertelange kirchliche Tradition des Vertröstens: »Hier auf Erden geht es euch schlecht, ein Jammertal der Schmerzen. Doch irgendwann im Himmel werdet ihr es gut haben. Hoffet und haltet aus!« Über ganze Zeitalter hinweg hat die Kirche in Europa diese Art von Hoffnung eingesetzt, um die Gesellschaft ruhig zu halten. Um Heere von Leibeigenen, von unterdrückten Männern und Frauen daran zu hindern, für Veränderungen in ihrem Alltag zu kämpfen. Das kommunistische Hoffnungsbild des Aufstiegs der Arbeiterklasse ist ein anderes Beispiel aus der Geschichte. In der Gegenwart ist es vielleicht unsere Hoffnung auf unendlichen technischen Fortschritt, mit dem wir eines Tages auch Klimawandel und Hunger stoppen können, ohne verzichten zu müssen. Deshalb lautet die Devise oft: Lieber zu kritisch als zu hoffnungsvoll. Vielversprechender sei da, sagen Hoffnungskritiker, sich auf das Hier und Jetzt zu konzentrieren. Das ist zwar zumindest ein guter Anfang. Auf Dauer kommen wir aber ganz ohne Hoffnung nicht aus. Wir Menschen brauchen Hoffnungsbilder. Anders lässt es sich nicht erklären, dass Menschen »der Gerechtigkeit des Kommunismus« oder auch der »Bullerbü-Familie« so hinterherträumen. Hoffnung ist eine Kraft. Der Blick in eine bessere Zukunft kann die Gegenwart verändern. Hoffnungsbilder leiten uns. Aber sie sind nicht alle gleich gut.

      Hoffnungs-TÜV

      Hoffnungsbilder auf ihre Qualität hin zu überprüfen, damit wir nicht den falschen Bildern hinterherlaufen – darum geht es beim Bullerbü-Komplex.

      Wenn man sich bei modernen Familien umhört, ist viel von Druck die Rede. Von Leistungsdruck in der Schule (manchmal sogar schon im Kindergarten), von Überstunden, von dem ständigen Konflikt zwischen Arbeit und Familie. Und alles für einen guten Zweck: »Damit du später mal einen guten Beruf hast« – »Damit wir deine Ausbildung bezahlen können« – »Damit wir später auch noch ein gutes Leben haben« oder einfach »Damit wir uns den nächsten Urlaub leisten können«.


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