Der Bullerbü-Komplex. Lars Mandelkow

Der Bullerbü-Komplex - Lars Mandelkow


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nie erreicht wird. Wenn sie einmal da ist, ist sie auch wieder nur eine Gegenwart, die dann der nächsten Zukunft zu dienen hat. Es muss nur noch dieses Projekt abgeschlossen, dieses Schuljahr geschafft werden. Dann wird es bestimmt entspannter. Das Leben verkommt in vielen Familien zu einem Slalomlauf, bei dem immer hinter der nächsten Kurve alles gut wird. Heute beherrschen Geld und Leistung das Leben, damit es morgen Ruhe und Frieden gibt.

      Denn von einem »guten Leben« haben die meisten Menschen eigentlich ein klares Bild: Es ist einfach und sicher, alles ist im Gleichgewicht. Spiel, Arbeit und Ruhe wechseln einander ab, es gibt genug Kraft für alles. Alle haben ihren Platz, das Essen ist lecker und gesund. Wenn man die Augen schließt und sich dieses Leben vorstellt, erscheinen in vielen Köpfen helle Räume mit klaren Linien und skandinavischem Design. Lachende Kinder in selbst genähten Kleidern bauen sich Bretterbuden im Garten und zum Abendessen gibt es Gemüseauflauf mit Karotten und Zucchini vom eigenen Hochbeet. Wahlweise gehen auch bollerndes Kaminfeuer, Handarbeit und der Duft von Omas Plätzchen aus dem Ofen. Diese Bullerbü-Paradiesbilder würden viele moderne Mütter und Väter der Pauschalflucht in den All-Inclusive-Club am Mittelmeer vorziehen. Denn wenn es von da aus nach Hause geht, wartet ja doch wieder das Hamsterrad.

      Wir haben es also mit einem Paradox zu tun: Alle wollen es einfach und schön haben, und dafür nehmen sie einen komplizierten und kräftezehrenden Alltag in Kauf. Denn »einfach und schön«, das gibt es nicht umsonst. Es gibt eine anspruchsvolle, edle Schablone dafür. Erst wenn wir die ausfüllen, wird es »immer lustig in Bullerbü«6. Ein trügerisches Hoffnungsbild. Die Hoffnung trügt, weil sie sich nicht erfüllt. Sie verschiebt sich immer genau so weit in die Zukunft, dass sie fast, aber eben doch nicht ganz erreicht werden kann und wir uns weiter ausstrecken. Wer hier an das Bild vom Esel denkt, dessen Reiter ihm eine Mohrrübe am Band vor dem Maul baumeln lässt, um ihn zum Weitergehen zu bewegen, der liegt nicht ganz falsch.

      Damit ist aber noch lange nicht gesagt, dass andere Hoffnungsbilder besser sind. Zum Beispiel solche, wo »Gott« draufsteht. Im Laufe der Geschichte hat es jede Menge Versuche gegeben, Bilder vom »Reich Gottes« zu entwerfen, die dem Leben eine Richtung geben. Nicht immer mit gleichem Erfolg. Das mittelalterliche Vertrösten auf ein Leben nach dem Tod wird heute viel kritisiert – die meisten wollen zumindest zusätzlich an ein Leben vor dem Tod glauben. Auch solche Bilder-Versionen gibt es viele. Schreckliche, wie das brutale Täuferreich zu Münster in den 1530er-Jahren, wo die Idee der Gleichheit vor Gott in einem Albtraum endete. Bewundernswerte, wie die lateinamerikanische Befreiungsbewegung seit 1968, wo gepredigt wird, dass Gott sich den Armen zuwendet, um sie aus der Unterdrückung zu befreien.

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      Das Täuferreich zu Münster

      In den wilden Jahren nach der Reformation war im ursprünglich katholischen Münster (Westfalen) eine radikale evangelische Gruppe an die Macht gekommen, die in der Erwartung der baldigen Wiederkunft Christi eine Gemeinschaft der Heiligen errichten und durchsetzen wollte. Das war ein starkes Hoffnungsbild und anfangs sicher gut gemeint, endete aber in Machtmissbrauch, Unterdrückung und schließlich offener Gewalt. Die Gruppe verschanzte sich. Die Stadt wurde belagert und militärisch zurückerobert. Noch heute hängen die Käfige am Turm der Lambertikirche, in denen die Leichen der hingerichteten Anführer zur Schau gestellt wurden.

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      Tausende Kirchen und Gemeinden von heute haben Ideen, Visionen und Pläne. Ob diese Hoffnungsbilder im Sinne Gottes sind, lässt sich theologisch vortrefflich diskutieren – letztlich müssen wir ein Urteil darüber wohl Gott selbst überlassen. Was wir aber tun können, ist zu prüfen, ob sie der Gesundheit der Menschen dienen, die ihnen folgen. Und damit ist sowohl die körperliche als auch die seelische Gesundheit gemeint.

      Hier bietet die Psychologie gute Möglichkeiten, um die Qualität von Hoffnungsbildern zu untersuchen. Die Psychologie fragt nach dem Verhalten, Erleben und Empfinden von Menschen. Wir können also fragen, wie sich bestimmte Hoffnungsbilder auf den einzelnen Menschen auswirken.

      image Wie denkt eine Person, die diesen Bildern folgt, über sich selbst und andere?

      image Wie denkt sie über die Welt?

      image Welche Gefühle lösen diese Bilder aus?

      image Was ist die Grundstimmung?

      image Wie sieht die Motivation aus?

      Und dann können wir vor allem fragen, was diese Bilder für soziale Effekte haben, was sie zwischen Menschen auslösen:

      image Wie beeinflussen sie die Art, miteinander zu reden?

      image Worüber wird gesprochen?

      image Was tun Menschen gemeinsam, und was vermeiden sie?

      Das sind die Fragen, die dieses Buch stellt. Psychologische Fragen an eine geistliche Haltung. Psychologische Fragen an die Hoffnung, der wir folgen. Das Bullerbü-Familienbild ist in vielen Köpfen so etwas wie ein heiliges Bild geworden, fast so als hätte Gott sich diese Familien als Vorbilder ausgedacht und nicht Astrid Lindgren. Dieses Bild ist ein Hoffnungsbild, das es zu prüfen gilt.

      Ein christlicher Blick auf die Dinge: Gnade

      Es gibt, wie gesagt, jede Menge Blickwinkel auf Gott und die Welt. Und wir können uns kaum vorstellen, wie die Welt aus einem komplett anderen Blickwinkel aussieht. Allein die Unterschiedlichkeiten zu akzeptieren, ist ein wichtiger Schritt.

      Dabei ist es eigentlich einleuchtend: Stellen wir uns eine Näherin aus Bangladesch vor. Sie ist vielleicht Teil der buddhistischen Minderheit in dem größtenteils islamischen Land. Arbeitet täglich 10 Stunden für weniger als 100 Euro im Monat. Sie muss die Strafen des Fabrikbesitzers fürchten, weiß, dass die Arbeit ihrer Gesundheit schaden kann. Und trotzdem ist sie froh, Arbeit zu haben. Sie liebt ihre Familie.

      Stellen wir uns nun einen weißen Mann im Süden der Vereinigten Staaten vor. Er ist vielleicht Vorstandsmitglied in einer Baptistengemeinde. Er besitzt ein Haus mit Pool und ein großes Auto. Er spendet für eine Hilfsorganisation, die den Obdachlosen in der Stadt hilft. Mit seiner Frau und den beiden Kindern fährt er regelmäßig in den Urlaub. Er liebt seine Familie.

      Eine arme Frau aus Bangladesch, ein reicher Amerikaner. Was denken diese beiden über die Rolle von Mann und Frau in der Familie? Was fühlen sie, wenn sie das Wort »Erfolg« hören? Oder »Gerechtigkeit«? In welchem Glauben sind sie erzogen worden? Welche Rituale berühren sie? Wer ist Gott für sie? Es ist vorstellbar, dass die Liebe zu ihren Kindern etwas ist, was sie gemeinsam haben. Aber auch die werden sie auf verschiedene Weise zum Ausdruck bringen. Schon aufgrund dieses kleinen Beispiels verbietet es sich, die eigene Wahrheit als die einzig wahre anzusehen. Auch nicht das eigene Bild von Familie. Und schon gar nicht das eigene Gottesbild.

      Und doch geht es nicht ohne. Niemand kann ohne Blickwinkel sehen. Sich eine Meinung bilden. Entscheidungen treffen. Ein Buch lesen oder schreiben. Deshalb ist es gut, auch den religiös-kulturellen Blickwinkel dieses Buches zu kennen. Er ist – kurz gesagt: christlich, psychologisch, evangelisch, männlich, (west)deutsch, mittelalt und mittelreich.

      Damit ist erst einmal viel über die unvermeidliche Inkompetenz des Autors gesagt. Ich habe keine Ahnung, wie es ist, eine Frau zu sein,


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