Helvetia 1949. Philipp Gurt

Helvetia 1949 - Philipp Gurt


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      Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig.

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      © 2020 Emons Verlag GmbH

      Alle Rechte vorbehalten

      Umschlagmotiv: Stadtarchiv Chur

      Umschlaggestaltung: Nina Schäfer

      eBook-Erstellung: CPI books GmbH, Leck

      ISBN 978-3-96041-681-4

      Originalausgabe

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      Für Sandra und für Lukas

      Achte jedes Mannes Vaterland,

      aber das deinige liebe!

      Gottfried Keller,

      «Das Fähnlein der sieben Aufrechten»

      PROLOG

      Meiersboden, Samstag, 18. Juni 1949

      Gisela lag in dieser stürmischen Sommernacht nur einen Steinwurf vor dem abgelegenen Gasthaus bäuchlings in der feuchtkalten Erde. Der Föhnsturm, der seit dem späten Nachmittag ständig an Stärke zulegte, riss über ihr an den Zweigen der mächtigen Kastanie.

      Sie war an Ort und Stelle derart hart aus dem Hinterhalt gepackt worden, dass ihre Gegenwehr wie eine Kerzenflamme im Wind erloschen war. Nicht mal um Hilfe rufen konnte sie, denn in ihrem Mund steckte sofort ein Knebel, und die dadurch gedämpften Schreie konnte die alte Wirtin im Tosen nicht bis ins Innere der Spelunke hören. Rücksichtslos drückte die Gestalt ihr nun ein Knie ins Kreuz, während sie ihr die Hände hinter den Rücken fesselte.

      Ein grober Jutesack wurde ihr über den Kopf gestülpt. Dabei kam ihr der Angreifer so nahe, dass Gisela die Wärme des Atems am Hals fühlen konnte, während dieser den Strick um ihre Hände fester zurrte.

      Was wollte er von ihr? Sie etwa vergewaltigen, demütigen oder ihr bloss einen Höllenschrecken einjagen? Letzteres wäre ihm bestens gelungen. Wenn er sie nämlich nur töten wollte, wäre dies mit einem Messer – oder mit was auch immer – doch schon längst geschehen, dachte Gisela, während sie von der Gestalt auf den Rücken gedreht und mit einer Hand durch den Sack hart am Kinn gepackt wurde, als würde der Kerl ihr damit sagen wollen: «Jetzt hör mal gut zu, verstanden?»

      Durch den Jutesack sickerte schwach der dunkelrote Schein der roten Laterne, die unweit daneben brannte und dem Gasthaus seit vielen Jahren seinen Namen verlieh. Der Kopf des Angreifers hob sich dunkel in diesem ab.

      Gisela glaubte, dessen Hass zu spüren, als fiele er wie Regentropfen auf sie, und das machte ihr Angst. Sie versuchte ihn zu fragen, was er denn wolle, was sie, Gisela, bloss getan habe, doch mehr als erstickte Laute brachte sie nicht hervor. Ausserdem musste sie des Knebels wegen mit der Luft haushalten. Begierig sog sie diese durch die geblähten Nasenflügel ein.

      Einen Moment lang verharrte die dunkle Silhouette wie der Schatten einer Statue über ihr, so als müsse sie erst überlegen, was zu tun sei, dann verschwand sie aus dem mattroten Schein.

      Gisela versuchte in die Dunkelheit zu horchen, die Schritte zu verfolgen, doch das Rauschen der vielen Bäume in den scharfen Windböen und das Scheppern des Eisengatters am Schweinestall übertönten alles.

      Sie nahm sich vor, sich ganz still zu verhalten, tot zu stellen, und wenn in wenigen Minuten nichts mehr passierte, würde sie sich langsam aufrichten, denn ihre Füsse waren nicht gefesselt. Sie müsste nur aufs rote Licht der Laterne zusteuern, um das dreissig Meter dahinter liegende Gasthaus zu erreichen, dann an die Haustüre treten, damit die Wirtin sie befreien käme – das war ihr Plan, der sie nicht in sinnlose Panik verfallen liess.

      Doch Gisela Möckli kam nicht weiter in ihren Gedanken, weil sie erst aufgerichtet, dann am Arm gezogen weggeführt wurde. Fast erleichtert stellte sie nach wenigen Metern fest, dass sie direkt im roten Schein der Laterne stehen geblieben waren, der nun satt durch den Jutesack drückte.

      Die nackte Angst wallte in ihr hoch, als die Gestalt ihr eine Schlinge um den Hals legte, zuzog und sie damit zeitgleich so weit in die Höhe hob, dass sie nur noch auf ihren Zehenspitzen stehen konnte.

      Erhängen?

      Das war der einzige und ebenso absurde Gedanke, der ihr durch den Kopf schoss, während ihre Zehenspitzen sie weiter vom rettenden Boden hochstemmen mussten, als wäre sie eine Ballerina, die den sterbenden Schwan tanzte, denn gleichzeitig kämpfte sie um jeden Atemzug.

      Immer wenn sie glaubte, es keinen Moment mehr länger aushalten zu können, reichte die Luft dennoch, um die anschwellende Ohnmacht in Schach zu halten. Zudem dehnte sich die Schlinge, sodass sie nach und nach endlich ihre Füsse wieder flach auf den Boden stellen konnte, wenn auch nur behutsam, damit der Hals nicht weiter zugeschnürt wurde.

      In grausamer Qual verstrichen die Sekunden, denn weiter liess sich die dicke Schlinge nicht dehnen, und ihre Hände bekam sie nicht frei, ebenso wenig den Knebel aus dem Mund.

      Warum?

      Warum und vor allem wer versetzte sie auf diese Weise in grausame Todesqualen, fragte sie sich, die Panik weiter unterdrückend. Den Begriff von Zeit verlor sie dabei zusehends. Es war ihr, als verharre sie eine unbegreiflich lange Zeit in dieser Haltung, als der Stoffknebel vom Speichel durchnässt sich so weit zusammenzog, dass grosse Hoffnung in ihr aufkeimte, die ihren Überlebenswillen antrieb. Sie schaffte es endlich, durch den Mund, am Knebel vorbei, zu atmen. Was für eine Erleichterung. Sie kaute weiter auf dem gedrehten Stoff wie ein nervöses Pferd an seinem Maulgeschirr, bis sie ihn endlich mit der Zunge ausstossen konnte.

      Glückselig atmete sie einen Atemzug durch, um nach der Wirtin zu schreien, als ein kräftiger Zug am Seil sie hochriss – so hoch, dass ihre Füsse verzweifelt ins Leere zappelten, während die Erstickung einsetzte.

      In ihren Ohren begann es zu rauschen, als käme die Plessur nach einem heftigen Gewitter weit hinten im Schanfigg aus dem Tobel geschossen. Ihr Körper wand sich weiter im gespenstisch roten Schein, die Schatten der Zweige über ihr tanzten zu ihren Füssen. Verwaschen vernahm sie als letztes Geräusch in dieser Welt aufgeregtes Hühnergegacker, bevor die Hunde anschlugen. Deren Gebell verstummte leiser werdend irgendwo in ihr drin, in einer so tiefsamtschwarzen Stille, welche das Tor zur finsteren Ewigkeit aufstiess.

      1

      Der Mond hing bleich wie die Sichel des knöchernen Sensenmannes zwischen den schwarzen Silhouetten von Pizokel und Mittenberg, während der stürmische Nachtwind über ihre Flanken ins Tal brauste, sodass der Bergwald ächzte und hin und wieder das Knacken eines morschen Astes zu hören war.

      Landjäger Caminada trampte mit ausgeschaltetem Hilfsmotor, über seinen Velotöfflilenker gebeugt, ins Täli, dem südöstlichen Churer Quartier, dessen schmucklose Häuser sich nach dem Totengut nur noch linksseitig in die Schlucht reihten, als wären sie das löchrige Gebiss des felsigen Schlunds.

      Als er am Totengutbrückli vorüberfuhr, schlug hinter seinem Rücken die St. Martinskirche drei Mal. Die tiefen Klänge hallten leise aus der Altstadt gegen den Wind ins Täli.

      Die wenigen Gebäude, die an dieser Stelle wie mit einem Hammer in den zunehmend stotzigeren Hang getrieben ihren Platz gefunden hatten, lagen im Dunkeln. Einzig im Krankenasyl Sand, das am Schluchteingang und nur drei Steinwürfe oberhalb der Strasse stand, hatte Caminada noch Licht entdeckt. Der von der Strassenlaterne geworfene gelbe Schein vermochte dem Eindruck von Düsternis nicht zu wehren. In ihrem Lichtkegel tanzten die Schatten der Zweige und Büsche wie Krähen im Sturmwind. Die schlecht gekieste, nur


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