Helvetia 1949. Philipp Gurt
erzählte, was er bisher von Hermine Montalta erfahren hatte.
Marugg reichte derweilen die ersten beiden Tassen den Uniformierten weiter, bevor er seine nach einem ersten Schluck vor sich hinstellte und der Wirtin höflich dankte.
«Also», begann Caminada, nachdem er Hermine gebeten hatte, sie alleine zu lassen, «ich habe alles so gelassen, wie’s war. Einzig die Wirtin hat den Jutesack über dem Kopf des Opfers aufgeschnitten, als sie die Erhängte vorfand. Die Stola wurde, was ich gesehen habe, am Eisenarm, an dem die rote Funzel hängt, befestigt. Der Täter muss seitlich an der kleinen Laterne hochgestiegen sein, Halt fand er dabei an den verschnörkelten Verzierungen. Ich schätze, die Pfunzel ist drei Meter hoch.»
Caminada hielt grosse Stücke auf den jungen Marugg, der erst im letzten Jahr mehrere Monate in Bern bei der Bundespolizei zugebracht hatte, um seine Ausbildung als Erkennungsfunktionär abzuschliessen. Nun stand er als Einziger im gesamten Korps in Graubünden als solcher im Einsatz und dazu als Jüngster im Bunde. Einen besser zu ihm passenden Dienstkameraden hätte Caminada weder finden noch sich wünschen können. Wie vor zwei Jahren versprochen hielt Marugg Wort und ihm den ganzen Schreibkram vom Hals und hatte ihn nie blossgestellt, nur weil Caminada mit Lesen und Schreiben so grosse Mühe bekundete, da sich Buchstaben für ihn zu einem schier unüberwindlichen Bergwirrwarr türmten. Der studierte Marugg war es gewesen, der endlich dem Ganzen nach so vielen Jahren einen Namen gegeben hatte – Dyslexie, Wortblindheit.
«Walter.» Marugg riss ihn aus seinen Gedanken. «Was sagt dir dein Ranzen?»
«Seltsam erscheint mir, dass ein Täter sein Opfer ausgerechnet im Lichtkegel der roten Laterne erhängt und dazu mit Sicherheit bewusst die Stola eines Geistlichen benutzt. Kommt, lasst uns nach draussen gehen.»
«Ich weiss, was du meinst. Dasselbe geht mir auch durch den Kopf.» Marugg leerte mit einem letzten grossen Schluck die Tasse Kaffee, stellte sie auf die Bar zum anderen Schmutzgeschirr und folgte Caminada.
Die beiden Polizeimänner erhellten mit ihren Taschenlampen die Hängende, während Marugg seine Ledertasche öffnete und den Fotoapparat hervorholte, den das Landjägerkorps erst vor drei Monaten endlich anschaffen durfte. Er hielt die bedrückende Situation in schwarz-weissen Bildern fest, bevor sie die Leiche umsichtig herunterholten. Die Stola hatte sich so fest zugezogen, dass Caminada sich schwertat, diese unbeschadet zu entknoten, um die Tote davon zu befreien.
Da das Landjägerkorps noch immer über kein Automobil verfügte, das Stadtpolizeiamt nur über zwei Seitenwagentöffs und der LaSalle vom Stadtrat nicht um Tote zu transportieren eingesetzt werden durfte, war Marugg mit der Nachhut mit einem Pferdekarren gekommen. Sie legten gemeinsam die Leiche in einen grossen, aus Weidenruten geflochtenen Korb, der hauptsächlich benutzt wurde, um Betrunkene oder Verletzte zu befördern.
Caminada strich dem toten Fräulein sorgsam das lange hellbraune Haar zur Seite, nachdem sie den Jutesack entfernt und ihre Handfesseln gelöst hatten. Sie leuchteten ihr ins aufgedunsene Gesicht, die Augen drückten aufgequollen nach aussen, trockener Speichel klebte ihr am Kinn. Auf den ersten Blick schien sie sonst unverletzt – weder an Händen noch Armen trug sie Abwehrverletzungen, nur Fesselungsmale umschlossen ihre schlanken Handgelenke.
«Eruieren wir nun den Todeszeitpunkt.» Marugg holte ein Quecksilber-Fieberthermometer aus der Tasche und zog den Jupe der Toten etwas hoch.
«Sie muss kurz vor dem Tod auf dem WC gewesen sein», stellte er vor sich hinredend fest, «denn sie hat nach dem Eintritt des Todes keinen oder kaum Urin verloren – ihre Unterhose ist ja nicht mal feucht», sagte er, während er das Quecksilberthermometer vorsichtig anal einführte. Caminada blickte respektvoll zur Seite, um die Würde der Toten zu wahren. Er wunderte sich, wie der immer so höfliche Marugg solche Untersuchungen mit einer derartigen Gelassenheit, ja emotionalen Distanz vornehmen konnte.
«Zehn Minuten dauert es nun, bis wir das Ergebnis haben.» Marugg zog den Jupe wieder bis zu den Knien herunter. Da sie die Leiche währenddessen nicht bewegen durften, warteten sie gedankenversunken daneben, und die Stille wurde nur hin und wieder von kurzen Wortwechseln durchbrochen.
«Walter, leucht mal.» Marugg hielt das Fieberthermometer vor sich. «Fünfunddreissig Komma sechs Grad zeigt es auf der Skala an, und wir haben hier draussen achtzehn Grad.» Das zeigte ihm ein Blick auf das Aussenthermometer an. Er entnahm aus einem Seitenfach seiner Tasche eine Anleitung, die er im Wind auf die Ladefläche des Pferdewagens drücken musste, während Caminada weiter mit seiner Taschenlampe leuchtete.
«In Anbetracht der Kleidung und der beiden Temperaturen, dazu der Wind – sie muss zwischen halb zwei und zwei Uhr getötet worden sein.»
«Das bestätigt exakt die Aussage der Wirtin», sagte Caminada. «Und wenn wir nun alles haben, dann lasst sie uns fortbringen, damit wir noch die Umgebung in Augenschein nehmen können.» Caminada mochte keine Toten – und schon gar nicht, wenn es junge Menschen waren.
Sie legten ein Tuch über das Fräulein und verknoteten es fest mit dem Korb, des Sturmes wegen, der in unregelmässigen Schüben die Zweige im Nussbaum über ihnen wütend schüttelte. Mit einem gemeinsamen «Hauruck» hievten sie den Korb auf die Ladefläche.
Die beiden uniformierten Polizeimänner setzten sich auf den Kutschbock, das Pferd legte sich in die Riemen, und karrten hinunter Richtung Schluchtausgang mit dem Ziel: Leichenhalle Kreuzspital.
Dr. Bargätzi sei aus dem Näscht geschellt worden, doch der würde sich bestimmt nicht vor dem Morgen bemühen lassen, liess Caminada Marugg wissen, während sie im Schein ihrer Lampen den Boden rund um die Rote Laterne absuchten, aber nichts fanden. Sie gingen um die gedrungenen Nebengebäude, warfen ihre Lichtkegel in ein jedes, auch in den Schweinestall, bevor sie sich dem Gasthaus näherten. Der Wind zerzauste weiter die Bäume und Sträucher, Staub wirbelte vom Vorplatz in ihre Augen, dennoch blieb die Nacht lau, im Gegensatz zur Kühle unten in der Schlucht.
Als sie ums Hauseck des Gasthauses schlichen, schlugen die Hunde an. Zähnefletschend sprangen sie im Schein der Lampen am Maschendrahtzaun hoch, verbissen sich wie tollwütig im Gitter. Die Wirtin eilte hinzu und brüllte ein «Aus», sodass augenblicklich Stille herrschte, als wären die schweren Tierkörper zu Lämmern geworden.
Bis auf ein im Hühnergehege liegendes, halb totes, wahrscheinlich vom Fuchs gepacktes Huhn entdeckten die beiden Beamten nichts Ungewöhnliches in der Umgebung. Die grosse Wiese in der Waldlichtung dahinter lag im samtenen Dunkel dieser stürmischen Nacht, die umsäumenden Bäume wiegten sich im Wind. Caminada drehte dem Tier kurzerhand den Hals um, damit es vom Leiden erlöst wurde, und trug es mit.
Hermine nahm das Huhn, das ihr Caminada entgegenstreckte, und sie führte die beiden ins Haus, übers knarzende Stiegenhaus hoch in den dritten, den Dachstock, und verschwand wieder nach unten, wie Caminada es gefordert hatte.
Als erste Handlung schoss Marugg mehrere Fotos aus verschiedenen Blickwinkeln. In Fräulein Möcklis etwas unordentlicher Kammer mit der Dachschräge standen ein Schrank, ein altes Bett und eine in die Jahre gekommene Kommode. Der Spiegel über dieser wies eine blinde Stelle in der linken unteren Ecke auf, die Vorhänge vor dem Fenster, das hin zur Roten Laterne zeigte, waren schlufig gezogen.
Caminada und Marugg begannen gemeinsam das Zimmer in Augenschein zu nehmen. Der junge Ermittlungsfunktionär griff als Erstes in den Bettinhalt, hielt sich das Kissen vors Gesicht und hob die Decke an, bevor er die Rosshaarmatratze kehrte, die direkt auf einem Brett lag.
Das Fräulein schien nicht viel besessen zu haben. Immerhin zwei Paar Schuhe und Sandalen für den Sommer und ein gutes, fast neues für den Winter waren im Schrank zu finden. Etwas Schminke und ein fast leeres Parfümfläschchen sowie ein bebildertes Buch mit Schmetterlingsmotiven lagen auf dem mittleren Schranktablar.
Gemeinsam mit Marugg widmete sich Caminada interessiert der hellbraunen Handtasche, die im untersten Fach im Schrank gestanden hatte. Diese gab erwartungsgemäss am meisten her: ein Portemonnaie mit etwas Geld, ein Ausweis und ein Billett dritter Klasse «Zürich retour» von vor zwei Wochen, dazu ein angebrochenes Pack Zigaretten der Marke «Lucky Strike».
Das, was ihnen wichtig erschien, steckten sie in die rindslederne Tasche oder