Helvetia 1949. Philipp Gurt
Mitgefühl für die tote Serviertochter, sodass sie wenige Sekunden nach Erfahren von deren Schicksal sich benahmen, als hätten sie nur eine tote Maus im Keller gesehen?
«Das heisst, der Schpunta war voll gewesen?»
«Voll?» Köbi hob erstaunt die Augenbrauen. «Da hätte nicht mal eine verhungerte Sackratte Platz gefunden.» Er lachte und gab Fritz einen Puff in die Seite.
«Und was war mit der anderen Serviertochter, dem Käthy?»
«Z’Käthy Gruber?» Köbi strich sich erneut seinen Bart zurecht. «Die stand auch im Service. Und bevor du fragst, mir ist rein gar nichts aufgefallen. Ausserdem, der Gruberin würde niemals jemand krumm kommen, ausser er hätte einen Vollrausch, aber dann wäre es sowieso sein letzter gewesen.»
«Und ich nehme an, ihr könnt euch sonst an keinen der anderen Gäste erinnern?» Caminada kannte die Antwort bereits.
«Sternhagelvoll sind wir gewesen, Zahltag ist Sauftag. A huara Schwinta im Grind haben wir deshalb gehabt. Wir haben nicht mal eine Ahnung, wie wir beide überhaupt nach Hause gekommen sind», behauptete Köbi lautstark, und Fritz nickte dazu.
Caminada glaubte ihnen kein Wort. «Aha. Und wann seid ihr gegangen? Bestimmt auch keinen Schimmer einer blassen Ahnung von einer Idee?», spottete er offensichtlich.
«Landjäger Caminada, du bist wahrlich ein weiser Mann.» Köbi nickte übertrieben.
«Überspann den Bogen nicht, denn um das zu wissen, braucht man kein Wahrsager zu sein.» Caminadas sympathisch klingende Stimme blieb fest. «Es ist ein junges Fräulein letzte Nacht auf traurige Art und Weise und wie auch immer ermordet worden. Da erwarte ich ein wenig Respekt gegenüber der Toten!» Caminadas ruhiger Blick blieb an Köbi hängen, Fritz stierte noch immer, seinen Bart streichend, auf den Tisch, als ginge ihn alles nichts an.
Als von keinem der beiden eine Antwort kam, sagte er: «Ich bin sicher, Ernesto Poltera, der von der Stadt für den Aufbau Delegierte, wird seine Vorarbeiter heute informieren, dass es euch zwei rund ums Eidgenössische nicht mehr braucht. Auch nicht für den langwierigen Rückbau. Dann habt ihr beide die nächsten Wochen Zeit zum Nachdenken und sauft Wasser anstelle eines Einerli Roten zum Zmorga.» Caminada stand auf und zog seinen Geldseckel aus dem hintern Hosensack, sodass Rosetta an den Tisch kam.
«Ich zahle beide Kaffee.» Caminada legte einen Zweifränkler hin. «Isch guat so. Danke für den Kaffee.»
Köbi stand auf. «Walter, verträgst du heute kein Spässchen?»
«Nicht auf Kosten eines ermordeten Fräuleins.»
«Rosetta, lass die Rappen vom Caminada liegen, ich zahle für die beiden. Walter, komm hock wieder ab und nimm deinen Zweifränkler in den Hosensack», versuchte Köbi weiter zu schlichten.
Sie setzten sich diesmal alle an den Tisch, an dem Fritz noch immer auf die Tischplatte stierte, als lese er konzentriert die Neue Bündner Zeitung.
«Also, Walter, so was hat Chur noch nie gesehen. Was wäre es auch für ein Jammer gewesen, hätte ich mich so zugesoffen, dass ich nichts mehr davon wüsste.» Die Augen von Köbi glänzten, als ginge es beim Gespräch nicht mehr um die erhängte Gisela Möckli. «Es ging gestern Abend erst um halb zehn hinten los, als es finster war. Unter der roten Laterne stand im stürmischen Wind die Gisela, vor ihr eine Schlange Gäste, denn jeder, der in die Rote Laterne wollte, hatte, und jetzt halt dich fest, eine Zwanzigernote Eintritt zu bezahlen. Im blauen Blätz war immerhin ein Becher Bier enthalten.»
«Zwääänzig Stutz?» Caminada glaubte sich verhört zu haben. «Ja ist denn diese Tänzerin aus Gold, wie mir scheint?»
«Und eine Maske hatte jeder anzuziehen», fügte Köbi an.
«Wieso denn so was Kurioses?» Caminada blickte verwundert zu Marugg, der neugierig zuhörte, aber ratlos mit den Schultern zuckte.
«Verzelle ich gleich. Hat mit der Lola zu tun, die ja seit zwei Monaten gross angekündigt wurde. Das ist eine, ach, wie sagt man schon wieder …» Er stiess den noch immer auf den Tisch starrenden Fritz in die Seite. «Fritz? Weisst du den Namen noch?»
Dieser schüttelte nur seinen Grind wie ein Pferd, als von der Bar Rosettas Stimme ertönte: «Burlesktänzerin.»
«Genau, Landjäger Caminada – so eine ist die.»
«Und was tut so eine?» Natürlich hatte auch Caminada die Gerüchte gehört, und letzte Woche war ein Plakatträger durch Chur gelaufen, der ein gar frivoles Bild von Lola herumgetragen hatte, sodass Frau Luicetti, die das Lebensmittellädeli in der Unteren Gasse führte, entrüstet das Stadtpolizeiamt aufgesucht hatte und sogar beim katholischen Pfarrer Jehli in der Erlöserkirche vorstellig geworden war. Aber über die genauen Hintergründe hatte sich Caminada deswegen keine weiteren Gedanken gemacht.
«Also, diese Lola trug gestern Abend ebenfalls so eine Maske», fuhr Köbi weiter.
«Wie an der Fasnacht?» Caminada konnte sich kein rechtes Bild davon machen.
«Nein, wo denkst du hin? Nur so eine dünne noble bis zur Schnorra aba. In Venedig, hat man uns gesagt, trägt man solche während des Karnevals, und das auch nur die Mehrbesseren.» Er kratzte sich seitlich über der Stirn im struppigen Haar und nahm einen Schluck vom Einerli. «Was wollte ich eigentlich sagen … ach ja, eben auch diese Lola hatte so eine getragen, während sie getanzt hat – eine goldene, als wäre sie eine Ägypterin.» Seine Augen glänzten beim Gedanken daran.
«Und dann, lasst mich raten – die hat euch am Schluss ihre Tüti nur ganz kurz gezeigt, und ihr habt danach in euren leeren Geldseckel gestarrt, und aus war die Maus?» Caminada konnte es nicht fassen, dass Frauenbrüste bei gewissen Männern auch das letzte bisschen Hirn in Geld auflösen konnten.
Köbi lachte laut auf und schlug die flache Hand auf die Tischplatte, als hätte Caminada einen Gassenhauer-Witz gemacht, sodass Fritz stirnrunzelnd seitlich aufschaute, als wäre er geweckt worden. Caminada zündete sich eine Villiger an, blies den Rauch in die Tischmitte und wartete, bis sich der Köbi beruhigt hatte.
«Nein, nein, Walter, dann hätte ich ja gleich nach Feldkirch in d’Fuzzastuba fahren können, was erst noch günstiger gewesen wäre. Ehrlich gesagt, als die ersten Fotos von der Lola hier die Runde machten, ging ich nur wegen der dahin und habe einen Tageslohn bezahlt, in der Hoffnung, die füttlablutt zu sehen.» Seine ungepflegten Zähne blickten hervor. «Aber diese Lola, ach, ich kann’s nicht recht beschreiben, die macht einen im Oberstübli ja ganz durcheinander und tatsächlich den Geldseckel leer, wenn die zur Musik tanzt und so tut, als mache sie alles nur für einen allein.»
Er lachte wieder und sah Fritz an, der zufrieden brummte: «Es hat sich aber gelohnt, auch wenn wir ihre schönen Tüti nicht mal ganz gesehen haben.»
«Stimmt, Fritz, aber es war viel verreckter als alles, was ich je gesehen habe, und ich bin ja ein alter Saubock, wie du weisst.» Heiser kicherte Köbi, dann musste er husten, was er mit einem Schluck Roten besänftigte.
«Verstanden, aber habt ihr Hinweise oder Namen von Gästen, die uns weiterhelfen können? Vergesst nicht – wir ermitteln wegen Mord!»
«Im Ernst, Walter. Das Licht war wegen deren Auftritt noch schummriger als sonst, nur die Bühne lag im Licht, und dann trugen wir alle diese Masken am Pölli», er machte eine entschuldigende Handgeste, «es gab Besseres zu sehen, als die anderen anzugaffen.»
Weder Caminada noch Marugg sagten etwas dazu, sodass Köbi insistierte: «Ihr glaubt mir etwa nicht?»
Wieder gaben die beiden Gesetzeshüter keine Antwort und liessen ihn so im Unklaren darüber, was sie dachten.
«Landjäger Caminada, es ist präzis so gewesen, und um Punkt ein Uhr leerte sich dann die Rote Laterne so schnell, als brenne die Hütte.»
«Wieso denn das? Hat Hermine einen Grund erwähnt? Die überzieht ja öfter weiss der Herrgott wie lange. Wieso diesmal nur knapp eine Stunde?» Caminada blies den Rauch in die Tischmitte.
«Sie hatte bereits zu Beginn gesagt, dass dies