Helvetia 1949. Philipp Gurt

Helvetia 1949 - Philipp Gurt


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kommt, wie du weisst, und deshalb möglicherweise, was wir nicht hoffen wollen, mit dem Falschen», stellte Caminada in ruhigem Ton fest. «Deshalb will ich wissen, wo sie jetzt ist und wie’s ihr geht. Sollte auch in eurem Interesse sein, und jetzt mach gefälligst wieder einen Schritt zurück.»

      «Soso, wenn ein junges Maitli verschwindet, dann ist die Landjägerei sofort zur Stelle. Aber als unser Vater umgebracht wurde, da habt ihr euch einen Dreck darum geschert, herauszufinden, wer es gewesen war, damit der Sauhund zur Rechenschaft gezogen werden konnte. Ich warne dich, Landjäger Caminada. Wir werden irgendwann den schon noch ausfindig machen, und dann schauen wir, wer da Dreck am Stecken hat – ob dieser nicht doch bis ins Landjägerkorps reicht …» Nach diesen Worten machte er den geforderten Schritt zurück.

      «Du glaubst also immer noch, dass wir am Tod von eurem Vater selig schuldig sind? Dies, weil ihr vier zwei der Unseren verprügelt habt?» Caminada hielt kopfschüttelnd Blickkontakt. «Simmi, falls du das Wort Rache mit ins Spiel bringen willst – wir haben euch doch damals, nur einen Tag nach eurer Tat, den Meister gezeigt und euch alle vier ins Loch gesteckt. Das war richtig so und auch angemessen, denn tags zuvor waren die beiden Wachtmeister wegen den gestohlenen Kupferkesseln aus Sapün zu euch gekommen, die sie ja auf dem Schrottplatz versteckt gefunden hatten, und ausserdem – wer hatte Selbstgebrannten gleich fassweise hergestellt?»

      «Die Kupferkessel habt ihr, oder wer auch immer, uns untergejubelt, um euren Einsatz zu rechtfertigen. Das haben wir damals gesagt, und es stimmt auch heute noch. Da wollte uns einer, und es hat ja geklappt, ein gar dreckiges Strickli drehen. Und es mag vielleicht für dich, Walter, stimmen, dass nach der Prügelei die Sache erledigt war …» Er tippte mit seinem Finger über sein linkes Auge an die Narbe, die von Caminadas Rechter verursacht worden war. «Ihr wart zwar zu zweit, doch das ging schon in Ordnung. Ich trage dir gewiss nichts nach. So bin ich nicht, und der andere spuckte ja bestimmt eine Weile Blut, und auch du hast einstecken müssen. Aber vergiss nicht, du bist nicht der einzige Landjäger bei euch.»

      «Du meinst, die, welche noch mehr eingesteckt haben, hegten Rache? Das kann ich mir nicht vorstellen, auch wenn dem Max eine Handvoll Zähne fehlt und die Nase vom Rudolf noch immer schief im Grind hockt und du dem Maissen den Grind blutig geschlagen hattest. Aber deswegen euren Vater gleich umbringen? Das macht keinen Sinn. Und meine Rippen sind auch seit Jahren wieder ganz. Wir hatten das damals auf eure Weise, mit euren Mitteln geklärt – klären müssen.»

      Simmi gab keine Antwort, deshalb fuhr Caminada fort: «Ich sag dir jetzt öppis, und das zählt. Wir wissen, die Möckli wurde von jemandem brutal erhängt. Ein grausamer Tod. Womöglich hat sie was gesehen, was gewusst oder was ausgefressen, das zu ihrer Ermordung geführt hat. Aber ich bin erst beruhigt, wenn ich weiss, dass dem Käthy nichts passiert ist – immerhin schafften die beiden zusammen, auch gestern Abend. Und nur darum sind wir hier, trotz des Wissens, dass wir alles andere als willkommen sind.»

      Simmis Gesichtszüge wurden etwas weicher. «Walter, du wärst kein ungrada Siach, wärst du nicht a Schrooter», antwortete er.

      «Simmi, ich bin ein Schrooter geworden, weil es Ungrade gibt. Also, wenn ihr vom Käthy was hört, lasst es uns schnell wissen. Könnt ja ins Asyl fahren und es telefonisch ausrichten lassen.»

      Simmi nickte, und Maruggs Hand entspannte sich, während er sie langsam von der Waffe nahm, bevor sie sich verabschiedeten. Caminada sah, dass sich Schweisströpfchen auf Maruggs Stirn gebildet hatten, und klopfte ihm beim Gehen auf die Schulter. «Guat kmacht.»

      «Und?» Marugg blickte Caminada an, der auf seinem Velotöffli, ebenfalls ohne den Motor angetreten zu haben, aus dem Täli trampte. Rechts vor ihnen erhob sich der Mittenberg. Direkt über den Häusern der Altstadt thronte in dessen Flanke der mittelalterliche bischöfliche Sitz mit dem Hof, der Kathedrale und dem Priesterseminar mit seinen Rebbergen im Hang. Alles lag im warmen Sonnenschein, wie auch das Churer Rheintal, das sich mit dem mächtigen Calanda im Hintergrund vor ihnen öffnete. Auf dessen fast dreitausend Meter hohen Gipfeln hatte sich der letzte Schnee zurückgezogen und gab mit jedem Hitzetag schneller die Geröllhalden frei.

      «Lass uns zum Willi Martschitsch fahren, dem Junior, meine ich, und lass uns hoffen, dass das Käthy dort ist», schlug Caminada mit dem Blick auf die Bergwelt vor, mit der er so tief heimatlich verwurzelt war.

      Knappe zehn Minuten später, sie waren der Plessur und dem Geleise der Arosabahn entlang gefolgt, bogen sie nach dem Obertor in die Obere Plessurstrasse ein und hielten vor dem ersten Haus auf der linken Seite, in dem sich ebenerdig die Malerwerkstatt Martschitsch befand, wie das Werbeschild es auf dem Holztor zeigte: «Gutes Handwerk – ehrliche Preise».

      Martschitsch senior stand in seinem Malerschurz in der Werkstatt und strich soeben einen Fensterrahmen hellbraun, als sie eintraten.

      «Hat er was ausgefressen?», fragte er stirnrunzelnd und wischte seine Hände an einem Lumpen ab, nachdem Caminada nach Willi gefragt hatte.

      «Nai, nüt derrigs. Wir müssen nur kurz mit ihm reden», beschwichtigte Caminada den drahtigen Fünfzigjährigen, der seinen hellbraunen Haarkranz kurz geschoren trug.

      Zufrieden schien sich der Martschitsch damit aber nicht zu geben. Zumindest verriet dessen Gesichtsmimik dies Caminada.

      Dennoch führte er die beiden Ermittler anstandslos zur kleinen Einliegerwohnung, die im Parterre des Nebengebäudes lag.

      Den jungen Willi mussten sie aus dem Schlaf poltern, entsprechend sah er aus, als er die Türe öffnete.

      «Landjägerkorps Caminada. Ruf bitte das Käthy.» Caminada steckte ihm kurz und bündig seine Ausweiskarte unter die Nase, wollte das Überraschungsmoment nutzen.

      Willi fuhr sich verschlafen durchs volle gekrauste Haar. Er stand mit einem Unterleibchen und einer zu grossen Unterflöta im Gang. Durch das einzige Fenster warf die morgendliche Sonne einen gleissenden Kegel, in dem der Staub tanzte.

      «Z’Käthy? Sie ist nicht da. Ich habe gestern Nacht vergebens auf sie gewartet. Dachte, es wäre zu viel los gewesen in der Roten Laterne – wegen dieser Lola … dieser Tänzerin.» Er glaubte, sich erklären zu müssen. Erst jetzt sah er seinen Vater, der sich im Hintergrund hinter den beiden Ermittlern gehalten hatte, und zuckte zusammen, aber bestimmt nicht, weil er nur in seiner Unterhose dort stand.

      Caminada nickte und bat, einen Blick in die kleine Wohnung werfen zu dürfen, die aus einem grossen Zimmer bestand. Nichts Verdächtiges fiel den beiden Beamten auf, und z’Käthy schien tatsächlich nicht anwesend zu sein, auch nicht im Schrank. Deshalb verliessen sie das Gebäude, das direkt über der eingepferchten Plessur stand, und hörten, wie der Alte mit seinem Junior wetterte: «Sternasiach no mol, Willi! Du huara Schlufi. Ich habe dir doch mehr als deutlich gesagt, dass du dich nicht mehr mit so einer Tschättara einlassen sollst. Jetzt haben wir wegen der die Landjägerei im Hause. Zum Schämen ist das, du fertiga Galöri, du! Was sollen auch die Nachbarn denken? Reicht denn noch nicht, was passiert ist?»

      «Papa, das Käthy isch doch kai Schlächti, nur weil sie aus dem Täli kommt.»

      «Jetzt hör aber auf. Wievielmal willst du mir das noch sagen? Ha? Wer kennt denn die Grubers nicht? Hä? Das sind Glünggis und Schniffbückla in einem – verreckts Zigeunerpack. Mit solchen Leuten hat man besser nichts zu kutschieren. Die bringen nur Unglück über einen.»

      «Z’Käthy schafft aber recht und ist eine Fleissige, und wir haben uns gern.»

      «Schäm dich, Willi. Du weisst schon, was man über die Serviertöchter der Roten Laterne so alles verzellt. Lass dich von der nur nicht um da kli Finger wickla!»

      «Jo äba, Papa – verzellt. Die Leute reden doch immer. Aber du kennst von dahinten nicht eine. Z’Käthy schafft recht, und das seit vier Jahren im Restaurant Meiersboden, und wenn sie anderswo eine Arbeit findet, dann geht sie dahinten – egal, wann’s ist, sie hat’s mir fest versprochen.»

      «Bin ja nicht blöd. Solches Pack hält ihr Wort wie ein durchlöcherter Kessel das Wasser, und nenn dä Schpunta ruhig beim richtigen Namen. Die Rote Laterne ist kein anständiges Restaurant, darum hat sie auch diesen Namen mehr als verdient. Und eine aus dem Täli bleibt eine


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