Helvetia 1949. Philipp Gurt
konnte Caminada sein neues Leben noch gar nicht richtig fassen. Bis vor etwas mehr als zwei Jahren war er noch voll Trauer und Verbitterung über den Tod seiner ersten Frau Jolanda gewesen, hatte sich über ein Jahr lang dem Alkohol hingegeben und mehr schlecht als recht im Küblereiweg gehaust, als er am Tiefpunkt seines Lebens Menga begegnet war. Und nun lag er hier im neuen Haus und erwartete mit seiner neuen Liebe ein Kind.
Das Einzige, was von seinem Leben zuvor geblieben war, das waren die schönen Erinnerungen an Jolanda, seine Arbeit und die Bösen, denn die würde es jederzeit und überall geben.
4
«Im Namen des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes.»
Ein gemeinsames tiefes Amen der Geistlichen ertönte gegen neunzehn Uhr an diesem Samstag. Die allabendliche Andacht in der St. Luziuskirche war vorüber. Das Gotteshaus gehörte zu den Gebäuden des Priesterseminars, welches angrenzend über dem bischöflichen Hof in die Bergflanke eingebettet ob Chur thronte.
Diakon Anselmo Veranzze schritt in seiner schwarzen Soutane aus dem Gottesdienst, die Hände dabei gefaltet und im Geiste im Gebet zu seinem HERRN vertieft.
Seit er vor drei Jahren, erst mit siebenunddreissig, endlich die erste der drei Stufen des Weihesakraments erhalten hatte, war ihm von Priester Niklaus Casotti offiziell die Seelsorge und Missionierung des Tälis zuteilgeworden. Seine Herkunft hatte zwar möglicherweise eine Rolle gespielt, glaubte er zu ahnen, doch ausschlaggebend mussten sein geistliches Feuer, seine Treue gegenüber dem himmlischen Vater gewesen sein, dessen war er sich hingegen sicher.
Die italienischen Emigranten, die ausnahmslos erzkatholisch waren, stellten eine feste Glaubensgemeinschaft im Täli dar im Gegensatz zum liederlichen Treiben im Loch hinten, wie Veranzze schon vor seiner Amtsübernahme feststellen musste. Vor allem in der Roten Laterne ging die Hurerei nicht nur ein und aus, wie das graufarbene Arosabähnli durch die Schlucht es tat, sie hauste dort. Dazu kamen die Jenischen, das listige Zigeunerpack, das sich angesiedelt hatte und ihn verlachte, sobald er nur in deren Nähe kam, um das Wort Gottes zu verkünden. Die wenigen verarmten Künstler, vorwiegend Maler oder Bildhauer, dazu ein Schriftsteller, wohnten inmitten dieser Vaganten: Scherenschleifer, Kesselflicker, Korbmacher und der alte Bürstenbinder, der Buschauer, und nicht zu vergessen die Grubers – allesamt mehr oder weniger Taugenichtse, fand Veranzze. Aber genau die hätten das Wort des himmlischen Vaters am nötigsten gehabt. Nur deshalb nahm er jedes Mal den Weg gerne auf sich und versuchte dem Spott mit Liebe und mahnenden Worten zu begegnen.
Nur beim Taleingang, im Bodmer, dort, wo die meisten Häuser, und zwar beidseitig der Plessur, standen, wurde sein Kommen und nicht sein Gehen von den fleissigen Italienern begrüsst. Sie vertrauten ihm, und wenn er in der Abdankungskapelle des Totenguts einen seiner zweiwöchentlich stattfindenden Täligottesdienste für sie auf Italienisch hielt, dann wusste er ebenso, warum er vom himmlischen Vater als Achtzehnjähriger berufen worden war. Auch wenn das Abendmahl, die Feier der Eucharistie, das Busssakrament oder die letzte Ölung noch den Priestern vorbehalten blieben, umso mehr brannte sein Herz für seine heilige Aufgabe. Irgendwann würde er Priester oder sogar ein Märtyrer werden, so Gott es noch immer wollte – so wie dieser es ihm als Jugendlichem in einer Vision in der Ruine von San Gaudenzio, zuhinterst im Bergell, verheissen hatte.
Doch wie jedem von Gott berufenen Mann steckte auch ihm ein Dorn tief im Fleisch, damit der HERR ihn formen und führen konnte, damit nicht der Hochmut Überhand gewann.
Veranzze war sich sicher, das musste auch seine Exzellenz Bischof Kamber zu Chur persönlich erkannt haben, als dieser vor drei Jahren, während einer persönlichen Unterredung mit Priester Casotti, vom heiligen Missionsauftrag der Kirche im Täli gesprochen hatte, um damit dem Sündentempel zuhinterst im Talschlitz ein Ende zu bereiten. Der Bischof hatte zwar nicht diese Worte gebraucht, aber es mit Sicherheit so gemeint.
Er, Anselmo Veranzze, konnte nicht mehr zählen, wie viele Male er seither bei Wind und Wetter und jeder Tages- und Nachtzeit in seiner schwarzen Soutane steckend zu Fuss ins Täli geschritten war, ausgesandt und gestärkt mit dem Wort Gottes und voll Zuversicht, mit den Sündern das Gespräch zu finden. Inbrünstig hatte er dabei gebetet, dass das Sodom und Gomorra mitsamt den Felsen einzustürzen vermöge, dass der Finger Gottes im heiligen Zorn der Liebe herniederfahren täte wie der Pflug durch die Erde und damit die Rote Laterne, das Sinnbild des Höllenfeuers, auslöschte, um den Boden für neue Saat fruchtbar zu machen.
In diesen Jahren hatte Veranzze am meisten von jenen einstecken müssen, bei denen der göttliche Samen am wenigsten oder gar keine Früchte hervorbrachte, als wäre er auf steinharte Herzen gesät worden.
Doch gottlob, und dafür dankte er dem HERRN auf Knien in jeder Tagesfrühe in der St. Luziuskirche auf den so steinharten Holzbänken, als kniete er auf den Sünderherzen, hatte er, Veranzze, einen so kräftigen Körper geschenkt bekommen. Deshalb wurden ihm nur selten Prügel angedroht.
Diese Hermine Montalta, die Wirtin der Roten Laterne, mit ihren drei Höllenhunden, die sie schon zweimal auf ihn gehetzt hatte, als er sich beide Male gerade noch auf einen Baum flüchten konnte, war bestimmt dem Teufel ab dem Karren gefallen. Kein Wunder, verabscheute sie ihn wie das Weihwasser, wenn er mit einer ihrer immer wieder wechselnden Serviertöchter vor dem Gasthaus hatte reden wollen, um sie vor noch Schlimmerem zu bewahren. Und da waren noch die Gruberbrüder, die sich einen schlechten Spass mit ihm erlaubt hatten und ihn in ein leeres rostiges Ölfass steckten, darin mit Pech übergossen, danach federten, nur weil er mehrmals versucht hatte, das Käthy auf den rechten Weg zu bringen. Irgendwann aber würde er dafür belohnt und sie ihrer gerechten Strafe zugeführt werden, das musste Lohn genug sein. Denn was war dies im Vergleich zur Pein des Herrn Jesus Christus am Kreuz, sagte er sich stets und fühlte sich dem himmlischen Vater dadurch noch näher, denn wenn einer ihn verstand, so war es gewiss der HERR.
Diese Gedanken kreisten einmal mehr in Veranzzes Geist, als er an diesem frühen Abend von seiner Kammer unter dem heissen Dach des Priesterseminars auf Chur blickte, das zu seinen Füssen vor ihm kniete. Langsam folgten seine Augen dem aus Häusern geformten Finger, der sich von der Stadt ins Täli streckte, als wäre es ein Gotteszeichen, dorthin zeigend, wo schon lange dunkle Abendschatten lagen, obwohl die mittelalterliche bischöfliche Hofanlage noch gut eine Stunde im abendlichen Sonnenschein gebadet bliebe.
Mit dem Blick in die Schlucht kam eine unglaubliche Dankbarkeit und Nähe zum himmlischen Vater auf, denn selten durfte ein Geistlicher, so wie er einer war, Zeugnis von dessen Handeln so unmittelbar erleben, war er sich gewiss. Der HERR hatte nämlich gesprochen und als Zeichen am siebten Tag nach der Ankunft dieser Zürcher Hure den Tod über die Rote Laterne gebracht.
Veranzze schloss sanft seine Bibel, aus deren Altem Testament, dem Buch Exodus, er soeben gelesen hatte: Kapitel zweiundzwanzig, Vers siebzehn. «Eine Hexe sollst du nicht am Leben lassen!»
Genau vor einer Woche war es gewesen, als er hinten im Täli auf seinem Fahrrad hockte, als ein grosses, teures schneeweisses Automobil neben ihm hielt, nachdem es mehrmals heiser gehupt hatte, damit er bremse.
Aus dem Wagen, der ein Zürcher Nummernschild trug, stieg diese zu Fleisch gewordene Sünde aus: blonde Haare, rote Lippen, dazu dieses frohlockend frohe Lachen, das jedermann arglos und deshalb wehrlos werden liess.
Inbrünstig hoffte er, dass sie sich verfahren hatten, bestimmt auf dem Weg nach St. Moritz.
«Grüezi wohl, Herr Pfarrer.» Sie hatte ihm die weiss behandschuhte Rechte gereicht und deutete krampfhaft lächelnd einen Knicks an. «Äxgüsi, aber wir haben uns glaub verfahren.» Sie richtete ihren kleinen schicken Hut, doch sie konnte den Schrecken in ihrem Gesicht nicht verbergen, als sie seines sah.
Er hatte sich an diese Art von kurzem Erstarren, ja gar Entsetzen gewöhnt, denn seine rechte Gesichtshälfte war durch Brandnarben vollkommen entstellt, die Augenbraue und das Kopfhaar fehlten auf dieser Seite völlig, das betroffene Auge war weisstrüb und blind. Ebenso hälftig verbrannt waren seine Lippen und der rechte Teil des Halses, seine Gesichtsmimik liess rechtsseitig nur ein verzerrtes, monsterhaftes Grinsen zu.
Ganz im Gegenteil dazu seine andere Gesichtshälfte – diese zeugte von der Schönheit eines aussergewöhnlich