Helvetia 1949. Philipp Gurt

Helvetia 1949 - Philipp Gurt


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Sonne lichtdurchfluteten zerfallenen Kirche zu stehen, auch wenn die Mutter soeben zu Grabe gelassen wurde. Ein sonderbarer Schimmer bekleidete Vaters Augen. Er hatte seine Gelsomina immer geschätzt und respektvoll behandelt und war sich sicher, das wusste Anselmo, dass sie nun beim himmlischen Vater die ewige Heimat gefunden hatte.

      Nun war er, Anselmo Veranzze, weit weg vom Bergell in Chur, auch wenn die ersten Automobile tatsächlich nicht nur den Julierpass rauchend und stöhnend erklommen und die Rhätische Bahn zuhinterst in die Haupttäler fuhr, sodass kaum jemand mehr solche Wegstrecken zu Fuss zu gehen brauchte.

      Was, dachte Anselmo, würde sein Vater voller Stolz von ihm denken, wenn das alles hier im Täli vorüber war? Was, wenn er erführe, wie er sich für das Himmelreich aufopferte? Der geistige Samen, der seit Jahrhunderten in ihrer Familie eingepflanzt worden war, würde nun endlich auch in ihm, Anselmo, aufgehen, damit er reiche Frucht für den HERRN erbringen konnte und seinen Vater ebenso stolz machen könnte, wie Bruder Gaudentius es bereits getan hatte.

      5

      Die Neue Bündner Zeitung brachte wie erwartet am Montag, dem 20. Juni, einen Artikel zum Mord vom Samstag. Doch die umfangreiche Berichterstattung über die letzten Vorbereitungen des Eidgenössischen Schützenfestes, die zeitnah kurz vor Eröffnung erst abgeschlossen werden würden, rückten den Mord auf eine der hinteren Seiten, dazu nur als mageren Einspalter und unaufgeregt gehalten: «Totes Fräulein aus dem Thurgau im Täli aufgefunden …»

      Pünktlich um sieben Uhr begann in Küblers Arbeitszimmer eine Besprechung mit Caminada und Marugg.

      Der Major begrüsste die beiden mit den Worten: «Guten Morgen, die Herren. Vielleicht ist es gar nicht mal so schlecht, dass schon am Donnerstag die eidgenössische Fahne in Chur eintrifft und damit die Eröffnungsfeier stattfinden kann. Das wird den Mord spätestens dann ganz in den Hintergrund schieben. Denn wer ist nicht irgendwie mit dem Fest verbunden und kann dessen Beginn kaum erwarten? Wir haben alles getan, dass unsere kleine Stadt das grosse Fest gut ausrichten wird, und das wird uns nun zum Vorteil gereichen.»

      Damit hatte er zweifelsohne recht, dachte Caminada. Schon vor Wochen hatten die Stadt und einige der umliegenden Gemeinden ihre Schulen geschlossen, damit die Kinder für die Hilfsdienste geschult werden konnten, und sei es nur als Patronenhülsensammler, in der Warnerjugend oder im Bereitstellen der Turnhallen für die vielen zu erwartenden Gäste. Insgesamt standen deshalb tausendsiebenhundert aktive Helfer im Einsatz.

      Zudem machte ein weiteres Stadtgespräch, gemischt mit den ersten Gehässigkeiten, die Runde. Die gepfefferten Preise der Hotels und Gasthäuser sorgten an den Stammtischen für hitzige Diskussionen und zündrote Grinder. So manch einer glaubte überdies, grossspurig zu wissen, dass die kleine Stadt mit dem grossen Fest überfordert sei, und tat seine Weisheiten dazu kund. Das heisse, trockene Wetter staute die Hitze in den riesigen Festzelten schon jetzt unangenehm. Der warme Südwind wehte zudem täglich zügig durchs Tal und somit auch durchs Festgelände, was die Schützen alles andere als schätzen würden, wurde des Weiteren auf und ab diskutiert. So mischte sich die Vorfreude mit Anspannung.

      Ab diesem Montag hatte das Landjägerkorps zusammen mit dem Stadtpolizeiamt für Recht und Ordnung auf dem Festplatz zu sorgen. Bei den erwarteten über einhunderttausend Besuchern während der drei Wochen kämen sie mit ihren wenigen Mannen mit Bestimmtheit an den Anschlag. Deshalb mussten sie erst recht bereit sein, mahnte an diesem Morgen der Major Caminada und Marugg, als wüsste es nicht schon längst ein jeder Landjäger im Kanton, denn auch aus den Seitentälern wurde der eine oder andere vorsorglich tageweise dafür abgezogen.

      Vor allem der schwer abzuschätzende Mehrverkehr bereitete allen zunehmend Sorgen. In Chur selbst besassen erst einige hundert Einwohner ein Fahrzeug, doch als Verkehrsknotenpunkt zwischen Norden und Süden und als Hauptstadt Graubündens zog die kleine Stadt zwangsläufig viel Verkehr von ausserhalb an. Die einzige Durchfahrtstrasse, die ausserdem mitten durchs Städtchen führte, ging zeitweise im Trubel fast unter – und das schon bevor das Eidgenössische begonnen hatte. Immerhin hatten die Stadtväter vor drei Jahren beschlossen, sofort die meisten Strassen zu teeren, um die Staubverschmutzung in den Griff zu kriegen, ohne dauernd Sulfitlauge auf die Naturstrassen zu versprühen, damit sich eine bindende Schicht bilden konnte.

      Dazu kam, dass seit Kriegsende der Verkehr monatlich zunahm, und das rasant. Im Herbst 1947 hatte das Stadtpolizeiamt, das vor einem Jahr endlich aus dem kleinen Wachtstübli im Rathaus in das grosse Gebäude an den Kornplatz umziehen konnte, einen BMW-Seitenwagentöff erhalten. Letzte Woche wurde sogar der zweite angeliefert, welchen der Stadtratsausschuss aufgrund des Eidgenössischen angeschafft hatte. Das Landjägerkorps erhielt hingegen noch immer kein Fahrzeug zugesprochen, was für zünftig Unmut in seinen Reihen sorgte. Gemäss Begründung der Kantonsregierung fehlte es nicht an den nötigen Finanzen, aber an einem eidgenössischen Verkehrskonzept, das aktuell in Bundesbern ausgearbeitet würde und das im nächsten Jahr auf dem Tisch liegen würde und dann kantonal umzusetzen sei.

      «Also», die tiefe Stimme des Majors, in der immer ein militärischer Kommandoton mitschwang, riss Caminada aus den Gedanken, «wir bleiben selbstverständlich am Mord dran, aber im Moment hat das Eidgenössische oberste Priorität. Und da diese Möckli aus Amriswil im Kanton Thurgau stammt, haben wir hier vor Ort kein so grosses Kschnorr, als wenn es eine Einheimische gewesen wäre.» Er blickte den Landjäger und Marugg an. «Ihr wisst, wie ich’s meine?»

      «Major», meldete sich Caminada zu Wort, «wir bekommen beides unter einen Hut. Natürlich werden wir rund ums Fest für Recht und Ordnung sorgen, doch solange der Mörder frei rumläuft, können wir keine Ruhe geben, müssen dem ins Genick steigen – Politik hin oder her.»

      «Jaja, Caminada. Aber sind wir ehrlich. Was wissen wir denn schon über diese Möckli, ausser dass die mit grosser Sicherheit mit den liederlichen Gestalten aus dem Täli angebandelt haben wird, und schon ist’s passiert. Ausserdem bin ich mir ziemlich sicher, da wissen einige im Täli bereits, wer sich mit diesem Mord derart versündigt hat, dass der Herrgott die Himmelspforten für denjenigen auf ewig geschlossen hält. Schau, Landjäger Caminada, das ist wie damals mit dem Fall des alten Gruber, auch darüber wird Gras wachsen.»

      «Und die Stola?»

      «Was soll mit der schon sein?»

      «Sie muss einem Geistlichen gehört haben. Und da stellt sich mir die Frage – wie wird diese zur Todesschlinge?», insistierte Caminada, denn Mord blieb für ihn Mord, egal, wer das Opfer war.

      «Landjäger Caminada!» Der Major stand auf. «Mir hat der Bischof am Samstag doch persönlich garantiert, dass sie gestohlen wurde – dem Täli-Diakon Veranzze, der hat genau so eine besessen und hält sich öfters dort hinten auf.»

      «Gut, dann befragen wir den. Mir ist nämlich erst gestern zu Ohren gekommen, dass dieser Diakon sich spätabends, als diese Lola tanzte, in der Dunkelheit in den Meiersboden aufgemacht hatte, und ich wüsste gerne den Grund. Ein guter Freund von mir, er ist Lokführer, ist am besagten Abend kurz vor dem letzten Brückli beim Sassal mit der Arosabahn an Veranzze vorübergefahren, wie schon oft, und hat ihn zum Meiersboden hochlaufen sehen. Er hat mich deswegen angerufen, als er von der Geschichte gehört hatte.»

      «Nein!» Der Major schlug dabei resolut seine Faust auf den Tisch.

      «So, und warum nicht?» Caminada gab sich keine Blösse, er kannte den Major, seit er vor über zwanzig Jahren den Dienst unter dessen Kommando angetreten hatte. Er hielt es, wie ihm sein strenger Vater es immer wieder gesagt hatte: «Walti, wer anständig fragt, der hat ein Recht auf eine anständige Antwort.»

      «Das ist ein frommer Gottesmann, und der Bischof bürgt persönlich für seine Gefolgschaft.»

      «Na ja, wenn man sich so umhört, muss dieser Anselmo Veranzze sich hin und wieder mit einigen im Täli angelegt haben. Dass der kein Wässerchen trüben kann, will ich mal bezweifeln. Anscheinend ist er öfters wortmässig ausfällig geworden bei seinen –»

      «Sternawettersiach no mol!», unterbrach mit donnernder Stimme der Major, «hier geht’s um Mord und nicht um Wässerlitrüben, Walter. Versündige dich nicht vor dem Herrgott, indem du den Ruf der Kirche besudelst.


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