Helvetia 1949. Philipp Gurt
edel geschnitten, das volle schwarze Haar glänzte.
Und genau dies löste beim Gegenüber grosse Irritation bei der ersten und auch weiteren Begegnungen aus, wusste er aus Erfahrung.
Seine linke Gesichtshälfte lächelte an diesem Tag der jungen Dame anstandshalber zurück, die rechte verzog es gleichzeitig zu einer monströsen Fratze, sodass sie ihre Verwirrung nicht zu verbergen vermochte.
Kinder, fand er, die machten es richtig. Ihre Augen waren so ehrlich, wenn sie ihn mit offenen Mündern anstarrten oder ihm Fragen stellten. Einige der grösseren wollten sein Gesicht sogar berühren – die zerstörte Seite, tasteten über die ledrige rote Haut, die dicken und dünnen Vernarbungen. Und danach war es damit für die meisten von ihnen erledigt. Es gab nur zwei, die ihm trotzdem böse Worte nachgerufen hatten und hänselnd lachend davongerannt waren. Ihnen war er eines Tages nachgerannt, bis er beide erwischt hatte. Mit aufgerissenen Augen standen die zwölfjährigen Buben dann vor ihm, als er ihnen je ein in Papier eingewickeltes Stück Kuchen schenkte. Damit waren auch sie Freunde geworden, und sie riefen ihm bald schon von Weitem freundlich zu und winkten, und hin und wieder hatte er wieder was Leckeres für sie dabei. In ihren Augen sah er den himmlischen Lohn, denn in den Kindern, so fand er, war neben der Natur die göttliche Schöpfung am fühlbarsten zu erkennen. Was hatte der HERR so unmissverständlich in seiner Heiligen Schrift gesagt? «Lasset die Kinder zu mir kommen und wehret ihnen nicht, denn solchen gehört das Reich Gottes. Wahrlich, ich sage euch: Wer das Reich Gottes nicht empfängt wie ein Kind, der wird nicht hineinkommen.»
Nun blickte Veranzze in das makellose Gesicht dieses blonden Fräuleins. Auf der einen Seite schmeichelte es ihm, dass sie glaubte, einen Pfarrer vor sich zu haben, auf der anderen Seite sah sie genau so aus, als würde sie nur sehr selten, wenn überhaupt, ein Gotteshaus betreten, und glaubte daher bestimmt, dass jeder, der eine Soutane trägt, somit ein Priester sei.
«Der HERR segne Sie. Wenn Sie mir sagen, wohin Sie fahren möchten, dann kann ich Ihnen womöglich einen Rat geben», antwortete er ihr höflich.
«Wo ist denn dieser Meiersboden? Ich stelle fest, hier hinten wird’s immer enger, da passt ja nur noch knapp ein Automobil aufs Mal auf die Strasse.» Die blonde Frau blickte sich noch immer irritiert um, während der Fahrer sein Seitenfenster etwas herunterschob, um zuzuhören.
«Meiersboden? Ja, da sind Sie richtig. Sie müssen weiter dieser Strasse ganz ins Tobel folgen, dann rechts übers Brückli und auf der anderen Schluchtseite einige hundert Meter die Strasse den Berg hoch. Was wollen Sie überhaupt dort hinten?» Er ahnte es bereits.
«Ach, Herr Pfarrer, ich bin eine Tänzerin und werde bis nach dem Schützenfest dort auftreten – in der Roten Laterne. Und keine Sorge, nichts grusig Unanständiges.» Sie lächelte entschuldigend, während ihre Augen hin und her seine Gesichtshälften anschauten, als wollten sie beide zu einem Ganzen zusammenfügen.
Veranzze schwieg darauf, bis sie unsicher im Zürcher Dialekt fragte: «Äxgüsi, Herr Pfarrer, habe ich was Falsches gesagt?» Ihr Lächeln, das Veranzze widerwillig mochte, umspielte zaghaft ihr helles Gesicht.
«Nicht nur an dem, was wir sagen, vor allem an dem, was wir tun, misst uns der HERR, mein wertes Fräulein.»
Lächelnd sah die Schönheit erst Veranzze an, dann zum Wagen, aus dem missmutig der junge Fahrer stierte, der seinen Hut lässig schräg nach hinten geschoben hatte.
«Lola, lass den komischen Pfaff nur schwafle. Bravi Meitli chömed i Himmel, aber solche wie du überallhin. Komm, steig endlich ein, ich muss noch die drei Stunden zurück nach Zürich fahren, und das heute noch», tönte es unwirsch vom jungen Mann, der seinen Zigarettenstummel respektlos vor die Füsse Veranzzes spickte, der dies mit einem kurzen Augenkontakt quittierte.
Lola schien das Verhalten ihres Begleiters peinlich zu sein. «Also denn, Herr Pfarrer. Nüd für unguet, gälled Sie, und danke schön für d’Uskunft. Uf Wiederluege, Herr Pfarrer.» Sie stieg ein und verschwand nach einem letzten Blick auf Veranzzes Gesicht im Innern des Wagens und dieser weiter hinten in der Schlucht. Nur die Abgaswolke schwebte noch einen Moment in der warmen Luft.
Veranzze schnürte es das Herz zusammen; die viele Arbeit der letzten drei Jahre und nun das. Das war also diese Tänzerin, deren Ankunft er schon lange befürchtet hatte. Als schwarzer Schwan würde sie einem Magneten gleich noch mehr Sünde in die Rote Laterne ziehen, das Täli weiter damit vergiften.
Bilder begannen in seinem Kopf zu entstehen: Er sah sie auf der Bühne stehen, wie sie mit tanzenden Bewegungen und diesem schüchternen, angehauchten Lächeln sich auszog, sodass er so fest seine Augen zusammenkniff, dass es ihn schmerzte. Doch die Bilder liefen weiter. Er sah sich aufstehen, mitten aus der gierigen Zuschauermasse von ihr angezogen, als ihre roten, feuchten Lippen «Anselmo» flüsterten. Er hielt sich deshalb seine Ohren zu, schüttelte seinen Kopf, dann machte er kehrt, als hätte sich vor ihm eine Staumauer durchs Täli gezogen.
Er eilte hin zum grossen Felsen am Eingang der Schlucht. Unter der Adlernase, wie dieser hiess, drückte er sich mit dem Rücken an die Felswand und stiess ein inbrünstiges Gebet gen Himmel, das in ein innerliches Flehen nach Gerechtigkeit überging, sodass der Allmächtige ihn gebrauchen solle, auch wenn ihn sogar der Märtyrertod erwarten täte.
Beobachter, die ihn in diesem Moment nur von rechts anschauten, hätten schaudernd eine Art Monster in schwarzer Soutane dort stehen gesehen, diejenigen von links einen zu schönen Mann, um ein Gottesmann zu sein.
Er aber hatte der Hexe Gesicht, deren rote Lippen gesehen und gewusst, ja gefühlt, welche vermaledeite Kraft nun sich gegen seinen Missionsauftrag stemmen würde, ein satanisches Bollwerk des Bösen war im Täli angekommen – er musste sich rüsten.
Das war vor einer Woche gewesen. Und letzte Nacht hatte der HERR in seiner unglaublichen Gerechtigkeit, seiner barmherzigen Güte, aber auch in seinem heiligen Zorn ein Zeichen gesetzt. Bischof Kamber würde deshalb die Fortschritte im Täli bald mit einem würdevollen Nicken und Worten kommentieren wie: «Diakon Anselmo Veranzze, Sie sind wahrlich ein Gottesmann vor dem HERRN – ein Segen für unser Bistum. Ihr Platz im Himmelreich sei Ihnen gewiss.»
Veranzze kehrte aus seinen Gedanken zurück in das klerikale Gemäuer, in seine Kammer, in der eine tiefe Stille und Zeitlosigkeit lag. Er legte die Bibel achtsam auf den kleinen Holztisch am Fenster und verliess nach einem letzten Blick aufs Täli seine kargen vier Wände.
Die schwere Eingangspforte des Priesterseminars schloss sich hinter ihm, als er in die Hitze des Abends hinaustrat. Blüten- und Kräuterduft schwebte im bischöflichen Garten, als er die lange Treppe zum «Marsöl» hinunterlief. Er trug wie immer ausserhalb der Gottesdienste seine schwarze Soutane, ausser er arbeitete handwerklich in einem der bischöflichen Betriebe mit, dann trug er blaue Hosen und Hemd wie alle Arbeiter.
Seine Eingebung sagte ihm, dass es jetzt Zeit war, in aufrichtiger Dankbarkeit die zwei Kilometer durch die Schlucht hoch zum Meiersboden zu gehen, dabei in Stille dem HERRN für sein Eingreifen von letzter Nacht zu danken.
Wie ein dunkler Geist wirkte dabei der Vierzigjährige. Seine Halshaltung wirkte seltsam, weil die verbrannte Haut diesen auf eine Seite hin hatte steif werden lassen. Sein Hut mit der tellerartigen Krempe war ebenso schwarz wie seine Kleidung. Nur der weisse Römerkragen seines Collarhemdes hob sich hell ab.
Er schritt gleichmässig, einem Metronom ähnlich, neben der rauschenden Plessur Richtung Loch, als wäre es ein einsamer, fahnenloser Siegesmarsch einer verlustreich geschlagenen Armee. Der wilde lila Flieder blühte reich, verströmte üppig seinen honigsüssen Duft. Beäugt wurde Veranzze dabei nur von einem Grüppchen Tälibewohner, die die Köpfe zusammensteckten, wie sie es oft taten, als nähmen sie ihn nicht wahr. Sie sprachen mit Bestimmtheit über die Tote, wie er zu wissen glaubte.
Anfang Täli, bei der Brücke zum Bodmer, kam ihm Renato Spinelli entgegen. Spinelli, der es als einziger Emigrant in den Fussballclub Domat/Ems geschafft hatte, der immerhin in der zweithöchsten Liga der Schweiz mitmischte, winkte ihm von Weitem fröhlich zu.
«Buon giorno, Signore Veranzze.» Dabei hatte er den Lederball unter seinem rechten Arm eingeklemmt und lachte übers ganze Gesicht wie