Helvetia 1949. Philipp Gurt

Helvetia 1949 - Philipp Gurt


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fing der Vater immer an, meist an den langen dunklen Winterabenden, wenn die Tiere versorgt waren und sie um den warmen Ofen sassen und er sich die Pfeife gestopft hatte, während draussen der Schnee sich leise türmte und eine tiefe, alles einhüllende Stille das Tal füllte. Die Holzscheite knackten im Feuer, in der beengten Stube war es behaglich warm. Auch wenn Anselmo die Geschichte bereits viele Male gehört hatte, so konnte Vater sich immer seiner ganzen Aufmerksamkeit gewiss sein. Bilder entstanden dann vor Anselmos innerem Auge, und er hatte sich stets gewünscht, dabei gewesen zu sein, als damals alles geschah.

      «Also, meine braven Buben, hört gut zu, damit ihr gute Menschen vor dem HERRN werdet und er euch für sein Himmelreich reichlich rüsten kann.» Er zog an seiner Pfeife und blies den aromatischen Rauch in die kleine Stube.

      Ohne Zweifel, sein Vater war ein Mann Gottes, ein rechtschaffener dazu, wusste Anselmo und hörte gebannt zu.

      «Im 4. Jahrhundert kam ein gottesfürchtiger Mann, genannt Gaudentius von Novara, aus Norditalien das Tal hoch, um auch unser Casaccia, das hinterste und kleinste Dorf im Bergell, vom Heidentum zu befreien. Ungeachtet dessen, dass seine Gottesbotschaft nicht von allen Einheimischen gehört werden wollte, predigte er mitten im Dorf und verkündete die Heilige Schrift im Auftrag des päpstlichen Stuhls in Rom. Ihr müsst euch das mal vorstellen. Damals glaubten diese Heiden noch an Geister, machten Feuerzauber und beteten Steine an. Einen Fremden wollte man damals nicht im Tal haben. Er hätte ja die Kinder stehlen können oder die Frauen schänden. Doch Gaudentius von Novara liess sich von nichts und niemandem aufhalten und blieb standhaft.» An dieser Stelle legte der Vater meist eine theatralische kurze Pause ein und zog an seiner Pfeife.

      «Eines Tages, er war erst wenige Wochen im Tal und predigte mutig an einem Sonntag, auf dem Rand des Dorfbrunnens stehend, das Wort Gottes, ergriffen ihn aufgebrachte Einwohner und schleiften ihn einige hundert Meter ausserhalb des Dorfes Richtung Malojapass hoch. Neben dem Saumpfad wurde er in einem Kieferwäldchen auf einen Baumstumpf gelegt. Der Schmied des Dorfes erhob die geschärfte Axt und köpfte den Gottesmann mit einem einzigen Hieb, der, ohne zuvor zu jammern, damit den Märtyrertod erlitt.» Dabei blickte Lorenzo Veranzze seine Söhne eindringlich an, damit sie das Unfassbare so gut wie möglich erfühlen konnten. Und es war nicht der Ausdruck von Schrecken, der in seinen Augen lag – es war Stolz auf die Stärke Gaudentius’ in ihnen zu lesen, die alleine dem Herrgott entstammte, wie er erklärte.

      «Doch dann geschah es!»

      Aus der Stille des Raums erschraken sie anfangs, als er einem Paukenschlag gleich weiterfuhr: «Gaudentius erhob sich kopflos vor den erstarrenden Augen seiner Peiniger, fasste mit beiden Händen sein abgetrenntes Haupt, erhob es wie eine Laterne, schritt andächtig den Hang hoch zu einer kleinen Lichtung und legte es ab und sich daneben zur ewigen Ruhe. Der Mob bekam einen Heidenschrecken. Die feigen Mörder rannten Hals über Kopf hinunter ins Dorf, fürchteten, der Zorn seines Gottes würde sie nun treffen, sodass die Bergflanken ihr Gestein deswegen einmal mehr auf sie herunterdonnern lassen würden, als wäre es ein steinerner Fluss, der sie allesamt begraben würde. Mittlerweile waren glücklicherweise einige der Einwohner zu barmherzigen Christen geworden, das Wort des HERRN ging wie ein wunderbarer Samen in ihrer Heidenseele auf und hatte sie zu wertvollen Christen gedeihen lassen. Sie begruben den Leib des Märtyrers an Ort und Stelle und errichteten aus Dankbarkeit für sein Wirken eine kleine hölzerne Kapelle, aus der im Mittelalter eine fast dreissig Meter lange gotische Kirche erbaut wurde. In deren Innern standen einst fünf Altäre, an den Wänden hingen prächtige Heiligenbilder», schwärmte der Vater.

      «San Gaudentius’ Gebeine wurden ausgegraben und in einen kleinen steinernen Wandsarkophag gelegt, der in der Kirche seinen Platz fand – er wurde vom Papst heiliggesprochen, und die Kirche erhielt seinen Namen. Das Wirken von San Gaudentius hielt nach seinem Märtyrertod weiter an: Ein Hospiz wurde angrenzend errichtet, ein beliebter Wallfahrtsort erwuchs, sodass aus allen umliegenden Ländern Gläubige den beschwerlichen Weg durch die Berge zu uns pilgerten.»

      Der Vater schenkte sich Wein ein, während die Mutter den Buben eine Tasse warmer Geissenmilch reichte, sich die Schürze zurechtstrich und sich strickend neben sie setzte.

      «Doch alles änderte sich, als Pietro Paolo Vergerio das Bergell erreichte», Vaters Stimme verfinsterte sich, «der ehemalige katholische Bischof von Modruš und Koper wurde zuvor durch den Papst exkommuniziert, weil er ein glühender Reformator geworden war, nachdem er in Deutschland Martin Luther kennengelernt hatte. Als nun reformierter Pfarrer verkündete Vergerio von Vicosoprano aus den neuen Glauben im gesamten Tal. Dabei hatte er auch Böses im Sinn.» Bei diesen Worten runzelte der Vater immer die Stirn.

      «Dieser Vergerio stiftete am 6. Mai 1551 die Bevölkerung im Tal an, mit ihm zusammen unsere Wallfahrtskirche zu entweihen. Und jetzt stellt euch vor: Die Bilder und heiligen Reliquien San Gaudentius’ wurden von ihnen zerstört und achtlos in die Orlegna geworfen, die mit ihren Fluten alles an unserem Dorf vorbei mitgerissen hat. Der aufgebrochene Wandsarkophag zeugt noch immer davon.» Mit drei langen Schlucken leerte der Vater den Becher Roten und stellte ihn gedankenversunken auf den Tisch. Um seine Mundwinkel spielte unversehens Zuversicht in Form eines Siegerlächelns.

      «Doch drei Familien, darunter unsere Vorfahren, hielten standhaft und treu am katholischen Glauben fest – bis heute! Und das, obwohl das ganze Tal reformiert wurde. Stellt euch das mal vor, was dies für Nachteile für uns katholische Minderheit mit sich gezogen hatte.»

      Auch die Schlussworte blieben über die Jahre hinweg dieselben und hatten sich in Anselmos Gedächtnis eingeprägt: «Gaudentius und Anselmo, Gottes Kraft ist in uns zu allem fähig und allgegenwärtig, wenn wir sie nur zulassen!»

      Manchmal redete Anselmo mit seinem Bruder noch danach, nach dem Gutenachtgebet, das stets die Mutter in der kleinen Kammer hielt, während sie alle vor der einfachen Bettstatt knieten, in der ihre Strohsäcke und die Schaffelle lagen.

      An der Wand vor ihnen hing das von Vater selbst geschnitzte Kruzifix, das er vom katholischen Priester in Maloja hatte segnen lassen, daneben das Bildnis der Heiligen Jungfrau Maria Muttergottes mit seinem goldfarbenen Rahmen.

      Das war nun alles lange her.

      Nun war Anselmo Veranzzes Vater achtundsiebzig und überraschend schnell gebrechlich geworden, wie er letztes Jahr bei seinem Besuch im Bergell feststellen musste. Seinen Bruder Gaudentius hatte Anselmo dann auch angetroffen, denn es war die Beerdigung ihrer Mutter gewesen.

      Vater hatte bei der Abdankung mit leiser Stimme erzählt, wie er 1889 als Achtzehnjähriger das Tal verlassen hatte, um nach Chur zu wandern, um an der Kantonsschule das Lehramt zu erwerben. Nur mit einem kleinen Bündel an einem Stecken hängend geschultert, war er zu Fuss über den langen Septimerpass ins Oberhalbstein, nach Bivio, gewandert. Er hatte später davon gesprochen, dass es wie eine Art Pilgerreise gewesen sei, auf den abgeschiedenen Saumpfaden zu marschieren, die die Römer ausgebaut hatten. In insgesamt vier Tagen wanderte er weiter, über Savognin, Tiefencastel und via Lenzerheide bis nach Chur.

      Während diesen Jahren in der grossen Kantonshauptstadt mit deren über neuntausend Einwohnern lernte er Gelsomina kennen. Sie heirateten 1901, und er kehrte mit ihr nach Casaccia zurück und übte gewissenhaft sein schlecht bezahltes Lehramt aus. Die kleine Landwirtschaft, die ihm sein Vater überliess, half ihnen in den Jahren des Ersten Weltkriegs, nicht zu verhungern, auch wenn der Hunger ein ständiger ungebetener Gast im Hause war. Als dann noch die Spanische Grippe im kleinen Tal an manche Tür klopfte und das Totenglöcklein zu viele Male läutete, da hatten sie als Familie im festen Glauben weiter darauf vertraut, dass der Herrgott ihnen ihr Himmelreich zur rechten Zeit öffnen würde.

      Das alles erzählte Vater, während sie am offenen Grab standen. Es roch nach warmer Erde und dem einzigen Blumengebinde, das die alte Signora Giacometti, die fast blind war, mit ihren knorrigen Fingern gebunden hatte, vielleicht ahnend, dass sie nur eine Woche später daneben beigesetzt würde.

      Gaudentius, der drei Jahre älter war als Anselmo, war in Chiavenna, in der italienischen Provinz Sondrio, zum Priester ernannt worden, und das zum grossen Stolz ihres Vaters. Er folgte deshalb dessen Wunsch und hielt eine Abdankungspredigt vor der Handvoll Trauernder, die aus dem Dorf kamen.

      Ihr Grab fand die Mutter, wie es ihr letzter


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