Helvetia 1949. Philipp Gurt

Helvetia 1949 - Philipp Gurt


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Da würde ja der Pfarrer rot werden, wenn wir mit so einer am Sonntag in den Gottesdienst hockten.»

      «Kurios, Vater, und Käthys Brüder wollen so einen Mehrbesseren wie mich nicht in ihrer Familie haben.»

      «Jetzt bist du aber sofort still, du frecha Lümmel!» Der alte Martschitsch erhob drohend seine Stimme, und dem Geräusch nach zu urteilen, bekam der Willi soeben eine geschellt. «So eine Wentala kommt mir nicht noch einmal über die Schwelle. Verstanda? Sonst kannst du deine Siebensachen packen und schauen, wo du bleibst. Dir haben nur ihr gutes Aussehen und die grossen Tüti einen sturmen Grind beschert. Schau nur zu, dass die nicht noch ein Popi von dir bekommt, sonst bist du dann geliefert. Es gibt weiss Gott genug Hübsche und vor allem anständige Maitla in Chur, als dass du im Täli grasen müsstest», entlud sich das Donnerwetter.

      Eine Türe schlug zu, dann eine zweite, dann kehrte Ruhe ein.

      «Und jetzt?» Marugg verzog vor dem Haus vielsagend sein Gesicht und konnte sich ein Schmunzeln nicht verkneifen, als er Caminada durch seine runde Nickelbrille anblickte.

      «Abwarten. Ich hoffe schwer, die taucht noch auf. Aber weisst du, was mich wundert?» Ohne Maruggs Antwort abzuwarten, fuhr Caminada fort: «Der Willi hat keinen Mucks gemacht und gefragt, warum wir überhaupt an seiner Türe stehen. Da würde doch unsereiner nachfragen.»

      «Das stimmt. Spätestens dann, als wir ihn aufgefordert hatten, dem Käthy mitzuteilen, dass es sich umgehend beim Landjägerkorps zu melden hat», pflichtete ihm Marugg bei.

      «Na gut, vielleicht war’s wegen seinem Vater, aus Angst, dass was rauskommt, das dem Alten sicher nicht gepasst hätte. Warten wir bis am Abend ab, und wenn wir nichts von ihr hören und sie sich nicht auf dem Posten meldet, dann fahren wir heute nochmals in die Rote Laterne. Wir müssen sowieso die Wirtin genauer befragen.»

      Noch hatte Landjäger Caminada sich nicht an den neuen Heimweg gewöhnt, seit er im Frühling nach so vielen Jahren vom Küblereiweg in die Loëstrasse gezügelt war.

      Professor Dr. Küenzli, Chefarzt im Kreuzspital, hatte ihm und Menga ein kleines Haus mit grossem Gemüsegarten verkauft, in dem vier gesunde, kräftige Obstbäume standen. Genauer gesagt hatten sie es hauptsächlich mit dem Geld von Menga gekauft, deren Eltern in St. Moritz das grösste Hotel besassen und einen kleinen Teil des Erbes bereits ausbezahlt hatten. Caminada war dies alles andere als recht gewesen, doch seit er Menga vor zwei Jahren am Tiefpunkt seines bisherigen Lebens kennen- und lieben gelernt hatte, war viel geschehen. Dass sie jetzt schwanger war, freute ihn besonders, denn er liebte sie und wünschte sich schon lange Kinder.

      Da Menga an diesem Samstagmorgen im Dienst als Ärztin stand und er sowieso auf dem neuen Nachhauseweg erst am Kreuzspital vorbeifahren musste, stellte er sein Vehikel vor dem Gebäude ab, vor dessen Südfassade ein riesiger Garten angelegt war, den die fleissigen Nonnen hegten und pflegten. Von den langen Innenbalkonen aus, mit ihren schönen Säulen und Rundbogendecken aus weiss gestrichenem Holz, konnten die Patienten auf diesen hinunterblicken oder weit ins Bündner Oberland.

      Eine in ihre Ordenstracht gekleidete Kreuzschwester verschwand auf Caminadas Bitte im Gebäude, dessen Böden nach Schmierseife rochen, um Menga zu rufen.

      Die schwarzhaarige Engadinerin, mit ihrer gebräunten Haut und den klaren Augen wie Bergseen, kam sichtlich erfreut in ihrem weissen Kittel die Treppe herunter auf Walter zu und führte ihn in den kleinen Pausenraum.

      «Schön, dich zu sehen, mein Liebster.» Sie küsste seine formschönen Lippen und fuhr ihm zärtlich über die Wange. Auch in ihren Augen lag noch immer dieselbe Liebe, die die beiden vor einem Jahr hatte heiraten lassen. Ein schönes Fest im Engadin im engsten Familienkreis war es gewesen, so wie sie es sich beide gewünscht hatten. Am hoteleigenen Strand am See assen und feierten sie, das Wetter hatte mitgespielt, es war ein warmer Junitag gewesen. Am Abend brannten Fackeln am Ufer des schlafenden Sees, als drei Geigenspielerinnen musizierten.

      «Strenge Nacht und Morgen gehabt?», fragte Menga.

      «Ja, war nicht einfach. Ein junges Fräulein fiel einem Verbrechen zum Opfer.»

      «Ich hab’s leider gehört. Sie liegt noch immer unten in der Leichenhalle.» Mengas Augen schimmerten plötzlich traurig. «Unfassbar, was Menschen manchmal Menschen antun, und du musst Opfern, Hinterbliebenen und Tätern in die Augen blicken können.»

      «Es ist nicht immer leicht, das gebe ich zu, aber jemand muss es ja machen. Hast du übrigens den Bargätzi gesehen?» Walter strich ihr liebevoll über die Schulter.

      «Der ist noch immer nicht aufgetaucht, soviel ich weiss.»

      «Menga?» Er sah ihr in die Augen. «Ich glaube, das ist nur der Anfang von noch Schlimmerem.»

      «Wieso glaubst du das? Du bist doch sonst nicht so ein Schwarzmaler?» Sie griff nach seinen schönen Händen.

      «Das kann ich dir nicht sagen, mein Schatz, aber ich habe ein ungutes Gefühl in diesem Fall. Hoffentlich liegt’s nur daran, weil ich wegen dem Eidgenössischen, das jetzt schon ein Riesenbrimborium erahnen lässt, in der Pflicht stehe. Das Fest wird grösser als gross werden. Zehntausende Gäste werden erwartet, und wir sind so wenige Beamte und verfügen nicht mal über Fahrzeuge. Dazu die Affenhitze und der Wind, der allen langsam einen sturmen Grind beschert.»

      «Und jetzt? Was gedenkst du zu tun?»

      Caminada nahm einen langen Atemzug, als müsste er die Antwort erst überlegen. «Hauptsache, ich habe dich jetzt kurz gesehen.» Seine angespannten Gesichtszüge hellten sich auf. Sie war wunderschön, fand er, und eine, die wusste, was sie wollte, das mochte er besonders an ihr. «Jetzt geh ich erst mal heim und esse was. Allenfalls muss ich am Abend wieder los, sollte das andere Fräulein, das wir suchen, sich bis dahin nicht gemeldet haben.» Er sah Mengas fragenden Blick. «Es ist die zweite Serviertochter der Roten Laterne, diese Käthy Gruber, aber die kennst du wahrscheinlich nicht.»

      «Nein, nur die Grubers als solche sind mir ein Begriff, aber wer sie ist, weiss ich nicht. Daheim kannst du übrigens das Voressen wärmen, und mach dir doch Patati dazu. Kannst ruhig genug Kartoffeln kochen, dann haben wir noch für Maluns oder kalte Kschwellti vorig. Mein Dienst endet erst um vier Uhr am Nachmittag. Ich hoffe, wir sehen uns danach noch.» Sie berührte sanft sein Gesicht, während er ihr liebevoll über den Bauch streichelte, obwohl von der Schwangerschaft noch nichts zu sehen war.

      Vor ihrem Einfamilienhäuschen im Hang des Loëquartiers, von dem man über Chur bis ins Bündner Oberland blicken konnte, stiess er das Gartentörchen auf, das von der Strasse in den Garten führte, den er nicht nur schön, sondern auch patent fand, denn er würde ihnen viel frisches Gemüse und Kräuter schenken. Die vier schon älteren, aber kräftigen Obstbäume, so hatten sie von Professor Dr. Küenzli erfahren, würden reichlich Äpfel und Kirschen, Birnen und Zwetschgen tragen und die Sträucher viele Beeren, die Menga einmachen konnte. Bei ihrem Einzug im Frühling hatten zwei der Bäume in voller Blüte gestanden und ihren Duft verströmt. Tagsüber summte es aus den beiden Bäumen vor lauter Bienen.

      An seinen ersten elektrischen Kühlschrank hatte sich Walter noch immer nicht gewöhnt. Er ertappte sich dabei, wie er, wie die vielen Jahre zuvor, das Resteis kontrollieren wollte, um es rechtzeitig mit einem neuen Block vom Eismann aufzufüllen.

      Nach dem Essen legte sich Caminada ein wenig in der Stube aufs Gutschi, das neben dem Esstisch stand, und schlief ein, als ihn das Telefon, an das er sich ebenfalls noch nicht gewöhnt hatte, aus dem traumlosen Schlaf schellte. Er ging in den Flur beim Hauseingang, wo es bei der Garderobe an der Wand hing.

      In der Leitung war der Landjägerposten: Das Käthy Gruber habe sich telefonisch gemeldet, vernahm er von Fräulein Rosemarie. Käthy habe erklärt, sie sei wegen dem alten Malermeister Martschitsch am Morgen aus dem Fenster gestiegen und habe gewartet, bis Caminada und Marugg gegangen seien.

      Erleichtert legte sich Caminada zurück aufs Gutschi und blickte noch müde durch die beiden Fenster ins üppige Grün, das der Südwind lebendig werden liess. Er würde eine Schaukel an den dicken Ast des Kirschbaums hängen, wenn es dann so weit wäre. Er wollte ein guter Papa werden, das besser machen, was sein strenger


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