Helvetia 1949. Philipp Gurt
hinter Caminada stand und zuhörte. «Und Landjäger, dein Schmalhans-Schüler hier, kann dä au schnorra, oder ist der stumm? Für schön ist das Rumpelstilzchen bestimmt nicht hier.»
Caminada wusste, die Gruberbrüder hielten von ihm, vom ganzen Landjägerkorps einen Dreck. Der Grund lag auf der Hand: Vor sieben Jahren, mitten im Zweiten Weltkrieg, wurde der alte Gruber beim Totengutbrückli im Morgengrauen eines diesigen Novembertages in der Plessur liegend tot aufgefunden – er war erstochen und übers Geländer des Totengutbrücklis hinuntergeworfen worden. Die Ermittlungen von Wachtmeister Maissen hatten damals ergeben, dass Gruber am Abend zuvor bis kurz vor Polizeistunde im «Plessurfall», der «Falla», gehockt war und dann seine Jassrunde frühzeitig und ohne Angaben von Gründen plötzlich verlassen hatte und in entgegengesetzter Richtung zu seinem Daheim aus dem Täli gelaufen sein musste. Über den Grund wurde gerätselt, und auch einige Gerüchte machten alsbald die Runde, aber ohne Licht ins Dunkel zu bringen. Was sehr wahrscheinlich schien, war, dass er bewusst seinen oder seine Mörder dort, warum auch immer, treffen wollte. Mehrere Zeugen hatten zudem zu Protokoll gegeben, dass an jenem Nachmittag eine auffallend hübsche junge Frau im Täli gesehen worden sei, die niemand kannte und die auf dem Weg zu den Grubers gewesen sein musste, denn einer der Zeugen sah sie von dem Schrottplatz kommen. Sie wurde als gross beschrieben und habe langes schwarzes Haar getragen, von ihrer Art her bestimmt eine Zigeunerin.
Der alte Gruber, klein und stämmig wie seine beiden jüngsten Söhne, war ein umtriebiger Mann gewesen, dessen alte Sägerei und vor allem der Schrottplatz auch für krumme Geschäfte dienten, sodass regelmässig das Landjägerkorps vor Ort ausrücken musste. Als das eidgenössische Bundesamt für wirtschaftliche Landesversorgung während des Zweiten Weltkriegs neben den Lebensmitteln auch Güter aller Art auf die Rationierungsliste gesetzt hatte, kam reger Schwarzhandel auch in Graubünden auf, von dem die Grubers ihren Anteil sichern wollten. Aufgrund eines solchen Vergehens wurden nur wenige Monate vor Grubers Tod, Mitte Mai im Jahre 1942, zwei Polizeimänner im Einsatz derart von den Grubers im Täli zusammengeschlagen, dass sie eine Woche lang im Kreuzspital lagen.
Das konnte das Landjägerkorps nicht auf sich sitzen lassen. Erst recht nicht mit dem stolzen Major an dessen Spitze. Dieser liess, nachdem er am nächsten Morgen eine feurige Ansprache auf das Vaterland und die Ehre des Landjägerkorps gehalten hatte, eine Zehnerschaft der kräftigsten Beamten, darunter auch Caminada, ins Täli einrücken.
Dem Rottweiler, den die Grubers damals auf sie losliessen, wurde von Leutnant Ferdinand Fässler in den Kopf geschossen, danach steckte er seine Waffe ein, um mit den anderen Beamten den Grubers zu zeigen, wo der Bartli den Most holt. Dabei bezogen auch drei der Ihrigen khörig Prügel, aber die vier Grubers wurden gebodigt.
Dem aber nicht genug. Nachdem die Beamten die vier in Handschellen gelegt und den Schrottplatz und die alte Sägerei vor deren Augen auseinandergenommen und alles Wertvolle kurzerhand als Schadenersatz gepfändet hatten, beschlagnahmten sie den Selbstgebrannten und schütteten das «Zuckerwasser» auf der anderen Strassenseite hinunter in die Plessur. Danach zerstörten sie mit einem schweren Vorschlaghammer die Destillerie.
Caminada erinnerte sich noch gut an die Worte des Majors während des anschliessenden Umtrunks in der Wachtstube: «Wackere und stolze Männer des Landjägerkorps, das wird sich in allen einhundertfünfzig Talschaften rumsprechen, und ein jedermann wird sich ab sofort gut überlegen, einem Landjäger Prügel anzudrohen, geschweige solche zu verteilen. Aufrichtigkeit siegt immer vor stumpfsinniger Gewalt.»
Doch der alte Gruber besass ebenso einen harten Grind wie der Major. Er liess diesem noch aus der Internierung in der Korrektionsanstalt im Domleschg, wo er und seine drei Söhne bis zum Oktober Zwangsarbeit leisten mussten, ein Schreiben zukommen. Darin drohte er, dass das letzte Wort noch nicht gesprochen sei, dass niemals genügend Wasser die Plessur hinunterfliessen könne, um zu vergessen, und dass das Totengut gewiss immer ein flottes Plätzli im Täli bereithalte.
Aufgrund dieses Schreibens, das zwar voller Fehler und kaum leserlich war, sorgte der Major dafür, dass alle nochmals einen Monat länger einsitzen mussten.
Dann geschah es: Nur drei Tage nachdem die vier doch noch entlassen werden mussten, fand der mysteriöse Mord am Alten statt.
Major Kübler winkte nach der ersten Tatortaufnahme durch Wachtmeister Maissen für weitergehende Ermittlungen ab: Solange Tälibewohner nur eigene und vor allem solche Gestalten umbrächten, regelten deren Gesetze dort hinten das von alleine. Zudem hätte in diesen schweren Kriegszeiten das Korps nun weiss Gott andere Aufgaben zu erfüllen, als Verbrechen gegen Verbrecher aufzuklären. Damit war die Sache für ihn vom Tisch.
Doch schon bald ging das Gerücht um, dass der alte Haudegen, der Major, dem alten Gruber zuvorgekommen sei, um nicht mit eingeschlagenem Schädel irgendwo aufgefunden zu werden. Dass der Gruber mit seiner Drohung wahrscheinlich sein eigenes Grab geschaufelt hatte, schlug aber keine einzige Welle ausserhalb des Tälis, und Gras wuchs darüber. Der damals ermittelnde Wachtmeister Maissen schloss die Akte, als einzig Tatverdächtige blieb die schwarzhaarige Zigeunerin, die danach aber nie wieder gesehen worden war, wie im Nachhinein klar wurde.
Major Kübler hatte damals prophezeit und sich bis zum heutigen Tage aber geirrt, dass es nicht lange dauern würde, bis der Mörder vom Gruber irgendwo tot aufgefunden würde – wahrscheinlich gar am Fundort der Gruberleiche unterhalb des Totengutbrücklis im Bachbett der Plessur – als Zeichen der Gruber-Rache. Dass bis zum heutigen Tage diese Rache ausgeblieben war, erstaunte alle, denn es wurde noch lange darüber gerätselt, bis es mehr oder weniger in Vergessenheit geraten war.
«Simmi», führte Caminada das Gespräch weiter, «die andere Serviertochter, diese Möckli, wurde letzte Nacht an der roten Laterne erhängt aufgefunden, nachdem der verreckte Trubel um den ersten Auftritt dieser neuen Tänzerin zu Ende gegangen war, und da frage ich mich doch – wo ist z’Käthy? Und genau deshalb ist mein Ermittlungskamerad hier, der mit seiner Schläue übrigens euch alle in den Sack steckt.»
Simmi griff sich nachdenklich an die Nase, die der eines Boxers nach vielen Kämpfen ähnlich war. «Also, schlau sieht er schon mal aus mit der Brille, wie ein Erstklässler, das muss ich zugeben. Aber glaub mir, Landjäger, niemand würde es jemals wagen, unserer Käthy was anzutun. Was meinst du, warum die seit Jahren erhobenen Hauptes auch in tiefster Nacht durchs Täli mit dem Velo fährt oder auch zu Fuss stolziert, und das könnte sie auch füttlablutt tun.»
«Stimmt, Simmi.» Caminada, der mit ein Meter achtzig eher gross war, blickte zu dem Zwei-Meter-fünf-Riesen hoch. «Die Gedanken habe ich mir selbstverständlich auch gemacht, als wir von der ‹Falla› hierhergefahren sind. Aber wegen dem Schützenfest sind jetzt schon viele Fremde hier, und der gestrige Abend hat solche angezogen, wie wir mittlerweile wissen – die kennen euch Grubers nicht, und z’Käthy ist eine auffallend Hübsche, dazu ein aufgewecktes Fräulein.»
Caminada hatte damals, bei den abschliessenden Ermittlungen, als alle vier Grubers im Domleschg versorgt wurden, das Käthy vernommen. Sie war achtzehn gewesen, mit Augen, aus denen die Verschmitztheit eines blitzgescheiten Lusmaitlas funkelten.
«Aufgeweckt?» Simmi machte bedrohlich einen Schritt auf Caminada zu, sodass er nun wie ein Eichenschrank direkt vor ihm stand. Nero schlug dabei wütendes Gebell an und riss zwei Meter dahinter an der Kette. Maruggs Hand glitt an seine Ordonnanzpistole, wie Caminada aus dem linken Augenwinkel erkannte.
Caminada war zwar deutlich kleiner als Simmi, aber er war ein zäher Hund, der eine unbändige Kraft aus seinem nicht übermässig muskulösen Körper explodieren lassen konnte. Von Kindesbeinen an hatte er in Samnaun, wo er aufgewachsen war, seinem strengen Vater Hermann, der eine Fuhrhalterei besessen hatte, geholfen, die Pferdewagen zu beladen. Eine knochenharte Arbeit, die ihn mit den Jahren aber zäh werden liess, und das hatte Simmi vor sieben Jahren bei dem Einsatz zu spüren bekommen, als Caminada den Riesen gemeinsam mit Wachtmeister Maissen gebodigt hatte. Noch immer zeugte eine Narbe an Simmis linkem Auge von dem einen Hieb des Landjägers, der ihn damit zu Boden gedonnert hatte.
«Willst du mit ‹aufgeweckt› etwa sagen, dass sie a Wentala ist?» Simmi baute sich noch weiter vor Caminada auf, der nach aussen hin, wie es seine Art war, ruhig blieb, sich aber nicht sicher war, ob der Riese nicht hier und