Helvetia 1949. Philipp Gurt

Helvetia 1949 - Philipp Gurt


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dem Gehen schärfte Caminada der an der Haustüre stehenden Wirtin ein, dass sie jede neue Erkenntnis umgehend an das Landjägerkorps zu vermelden habe und dass er und Marugg zwecks detaillierterer Einvernahme schnellstmöglich wieder herkommen würden. Die Angst und Verzweiflung stand ihr noch immer ins Gesicht geschrieben. Obwohl sie eine gwehrige Person war, die bestimmt mit manchem Mannsbild fertigwerden würde, riet er ihr, für diese Nacht zusätzlich die Hunde ins Haus zu holen, auch wenn Schwinta-Hitsch im Gasthaus übernachten täte. Dies obwohl es unwahrscheinlich war, dass es der Täter auch auf sie abgesehen hatte, da sie zuvor nicht angegriffen worden war.

      Die Sichel des Mondes hing mittig über dem Pizokel, als Caminada und Marugg den Meiersboden von heftigen Böen begleitet verliessen.

      Caminada schob sein Velotöffli die schmale Strasse hinunter zur Brücke. Die Plessur rauschte rechts unter ihnen in ihrem pechschwarzen Flussbett, hinter dem schroffe Felsen hochstiegen, durch deren Inneres der Tunnel der Arosabahn ins Schanfigg führte.

      Ein dickes Wolkenband, dessen Ränder vom verdeckten Mond schwach glommen, schob sich über ihnen durch die Nacht. Unten im Sassal angekommen, wo die schmale Holzbrücke die Plessur überwand, verschluckte die engste Stelle der Schlucht das letzte bisschen Licht. Sie fühlten sich dabei, als wären sie in ein Tintenfass gefallen, sie konnten nicht mal mehr ihre Füsse sehen und mussten ihre Lampen einschalten.

      «Peter, ich glaube, mit dem Mord an dem Fräulein kommt was auf uns zu.» Caminada blickte in die beiden Lichtkegel vor ihnen, die das Schwarz um sie herum noch düsterer wirken liessen.

      «Weisst du was, Walter? Haargenau dasselbe habe ich soeben auch gedacht, doch wir beide sind ein gutes Team.»

      «Noch mehr – wir sind Freunde geworden.»

      2

      Die St. Martinskirche schlug neun Uhr, als durch die östlich gelegenen Fenster des Landjägerkorps die Morgensonne ihre Strahlen warf, während Caminada und Marugg im Arbeitszimmer von Major Kübler an dessen Besprechungstisch hockten.

      «Meine Herren, einen solchen Mord können wir fünf Tage vor dem Eidgenössischen wahrlich nicht brauchen. Der im Siebenundvierzig, an dieser Flurina Hassler, hat ja gezeigt, in welchem Durcheinander alles enden kann.»

      Der drei Jahre vor seiner Pension stehende Major legte mit strenger Miene den Bericht vor sich auf den Tisch, den Erkennungsfunktionär Marugg trotz kurzer Nacht in aller Herrgottsfrühe verfasst hatte. Dies in drei Durchschlägen und im besten Beamtendeutsch.

      «Nun ja», Kübler blickte Caminada, dann Marugg an, «hoffen wir, die Neue Bündner Zeitung bringt es nicht allzu gross. Wind bekommen die ja sowieso davon.» Sein Blick ging wieder zu Caminada. «Walter, was gedenkst du nun zu tun?»

      Landjäger Caminada, der als einziger Beamter im Korps weder Schnauz noch Bart trug, im Bubigesicht von Marugg wuchs zu dessen Leidwesen nichts, strich sich übers wohlrasierte Kinn, das nach seinem Rasierwasser Pitralon duftete. Viel geschlafen hatte auch er nicht, doch für einen Kaffee und einen Teller Rösti am Morgen hatte es gereicht. «Es ist auch ohne Bericht von Dr. Bargätzi klar, dass wir wegen Mordes ermitteln müssen.»

      «Ja, heiligs Verdiana, ist der denn noch immer nicht bei der Leichenschau? Auf was wartet der? Dass die aufersteht und zu ihm marschiert? Nun ja, Selbstmord wäre mir in dieser Situation allemal lieber gewesen.» Major Kübler zog die dichten Augenbrauen grimmig zusammen, dabei schüttelte er – weil er es nicht fassen konnte – seinen Kopf und fuhr sich mit der Rechten über sein kurz geschnittenes graues Haar. Seine stramme Körperhaltung drückte noch immer den feurigen Militaristen in ihm aus, fand Caminada, als er ihn ansah, und so benahm sich der drahtige Kübler auch, der ausser in der Kirche zu jedem Anlass seine Uniform trug. Er legte sehr grossen Wert darauf, dass sie dabei wie frisch gebürstet aussah: mit der Doppelreihe silberner Knöpfe, die glänzten wie poliert, den goldenen Majorsstreifen in den Achselschlaufen und dem schwarzen Ledergurt.

      Major Kübler, der einen nach oben geschwungenen Schnauz trug, den er immer wieder zwirnte, war auch ein glühender Patriot. Er hätte am liebsten gehabt, dass die fünfzehn Mann des Korps in Chur bei jedem Dienstantritt vor der Schweizer- und der Bündnerfahne, die vor dem Gebäude auf dem kleinen Platz wehten, stramm gestanden und zur Landeshymne salutiert hätten. Darüber machten sich die hundertachtzig Landjäger, die auf die hundertfünfzig Talschaften im Kanton verteilt waren, hin und wieder lustig. Letztes Jahr hing deswegen an der Jahresversammlung ein Majorshut auf der Fahnenstange, und ein Apfel lag am Boden, in Anlehnung an den Hut Gesslers und Wilhelm Tell. Humor aber besass Kübler genauso wenig wie Unpünktlichkeit. Er liess deshalb tatsächlich den Fall untersuchen, den Apfel und Hut beschlagnahmen, als wäre ein Verbrechen geschehen. Schnell musste er aber davon Kenntnis nehmen, dass das ganze Korps zusammenhielt und die Spitzbuaba unter ihnen, die dies ausgeheckt hatten, deckten.

      «Bis wenige Minuten vor dieser Unterredung ist der Bargätzi mit Sicherheit noch nicht im Kreuzspital aufgetaucht, Major», knüpfte Caminada an die letzte Frage an, «denn ich hatte dort angerufen und mit meiner Frau Menga telefoniert. Aber nochmals, ich vertraue ganz auf unseren Erkennungsfunktionär Marugg, und von daher müssen wir sowieso Ermittlungen in Hinsicht eines Mordes eröffnen.»

      Kübler stand erzürnt hinter dem dunkelhölzernen Besprechungstisch auf und nahm an seinem klobigen Schreibtisch Platz, auf dem ein schwerer, sperriger Telefonapparat thronte. Obwohl der Zweite Weltkrieg schon bald vier Jahre zu Ende war, hing hinter ihm noch immer das Porträt von General Guisan an der Wand.

      «Nun gut, Walter. Also, was wollt ihr unternehmen, bevor die ganze Sache zum noch grösseren Problem wird?»

      Einmal mehr schien es Caminada, dass Kübler dem jungen Marugg wenig Beachtung schenkte, der nicht nur vom Aussehen die neue Zeit verkörperte, während Kübler der alten nicht nur nachtrauerte, sondern die neue teilweise noch immer zu verhindern suchte.

      «Peter und ich hören uns heute Morgen im Täli um. Die Geheimnisse dort hinten spült selten die Plessur aus dem Talschlitz und die aus der Roten Laterne erst recht nicht.»

      «Tut das. Die Behörden von Araschga-Churwalden machen ja auch keinen Streich, um das gottlose Treiben in der Spelunke unter Kontrolle zu bekommen, und wir dürfen uns wieder mal erst bei Verbrechen gegen Leib und Leben einschalten so wie jetzt. Übrigens, vor wenigen Tagen soll diese Tänzerin aus Zürich angereist sein, wie mir Dr. Poltera vom Organisationskomitee des Eidgenössischen anlässlich der letzten Koordinationssitzung berichtet hat. Die macht so einen Nackedeitanz. Die soll Gluschtige während des Schützenfestes ins Täli locken, damit die ihre Geldseckel leeren. Pfui Teufel, beschmutzt so unseren Ruf und den des Eidgenössischen obendrauf, während dabei die ganze Schweiz auf uns blickt. Da könnten ja Ausserkantonale meinen, wir vom Landjägerkorps kämen unserer Pflicht nicht nach.»

      Der Major hob nach diesen Worten grimmig den schweren Telefonhörer von der Gabel und wählte die 227, Bargätzis Nummer in dessen Wohnhaus, in welchem dieser im ersten Stock auch praktizierte. Nach vergeblichem Klingeln legte er genervt auf. «Der hat halt an einem Samstag schon Sonntag. Hockt sicher irgendwo beim Zmorge und lässt es sich wieder mal gut gehen.»

      Er schritt über den aufknarzenden Holzboden zur Tür.

      «Fräulein Rosemarie», rief er durch den Gang seine Sekretärin, die eiligen Schrittes postwendend erschien. «Rosemarie, sagen Sie einem der Hilfspolizeimänner, er muss den Bargätzi herholen. Er soll auch in der Schmiedstube, im Franziskaner und im Café Buchli einen Blick reinwerfen, denn wenn wir dort anrufen, lässt der Khaib seine Anwesenheit doch wie immer verleugnen. Ach ja, und auch im Weissen Kreuz, da geht der neuerdings hin.»

      Fräulein Rosemarie Niedermaier, die von allen Beamten geschätzt wurde, hatte ihren Fünfzigsten hinter sich und arbeitete schon viele Jahre für den Major. Sie hatte nie geheiratet und war deshalb kinderlos geblieben und war die einzige weibliche, dazu noch gute Seele für die wackeren Landjägermannen. Rosemarie unterstützte sie in allem, was ihr möglich war, als wären die Landjäger ihre Familie, was ein Stück weit auch so war.

      Bevor Marugg vor zwei Jahren vom Städtischen Polizeiamt zum Landjägerkorps wechselte, war Fräulein Rosemarie es gewesen,


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