Helvetia 1949. Philipp Gurt
schon zum Grausen aus …»
Schwinta-Hitsch trat einen Schritt näher von hinten an sie heran und legte ihr seine Hand tröstend auf die kräftige Schulter.
Die Wirtin fing sich rasch. «Die war mausetot. Trotzdem fasste ich ihr an die schmale Brust – kein Herzschlag, kein Atmen.» Sie starrte wieder zu Boden. Caminada wusste, das war eine der Gesten, die Menschen nutzten, wenn sie sich kurz sammeln mussten. «Also hockte ich mich auf mein Velo und fuhr zum Tälieingang, ins Krankenasyl Sand, denn erst dort gibt’s das nächstbeste Telefon. Ich bat die Nachtwache, das Landjägerkorps zu alarmieren, dann fuhr ich im stürmischen Wind zurück und hielt bei ihm.» Sie deutete auf Schwinta-Hitsch. «Traute mich doch nicht mehr alleine hierher. Also klopfte ich ihn wach, wir sind ja seit einigen Monaten ein Paar, und bat ihn mitzukommen, auch wenn ich wusste, dass er seit zwei Tagen mit einer Magen-Darm-Grippe im Näscht lag.»
«Sie war völlig aufgelöst, als sie bei mir klopfte. Ich brauchte leider einen Moment, dann hockte ich mich auf meinen Göppel und begleitete sie her. Das ist ja das Mindeste, was ich in so einem Fall tun kann.» Schwinta-Hitsch nickte Hermine zur Aufmunterung zu.
«Einen Verdacht, was passiert sein könnte?» Caminadas Blick fiel wieder auf die Hängende, die wegen einer Windböe sich nun gespenstisch langsam drehte.
«Wollen wir in dem huara Luft nicht reingehen, um weiterzureden?» Hermine zeigte mit der Petroleumlampe Richtung Türe und zog ihre Strickjacke enger um ihren fülligen Körper, als die nächste Böe noch heftiger an ihnen riss und ein kleines Wellblech gefährlich über den Vorplatz wirbelte, bevor es an den Geissenstall knallte, sodass die Tiere darin unruhig trampelten und ihre kleinen Glocken dabei schellten.
«Wenn man mich hier nicht mehr braucht, würde ich mich gerne wieder hinlegen. Mit so einer Grippe ist man nur ein halber Mann.» So gab Schwinta-Hitsch zu verstehen, dass auch er dafür war, ins Gasthaus zurückzugehen.
Caminada nickte.
«Leg dich oben in mein Zimmer, wäre froh, wenn ich diese Nacht nicht alleine hier hinten hocken muss.» Mit diesen Worten zog Hermine die Eingangstüre auf, und Schwinta-Hitsch schlurfte etwas kraftlos das Stiegenhaus hoch, während sie auf die Holztüre zusteuerte, auf der auf einem Messingschild in schwarzen Buchstaben «RESTAURANT» geschrieben stand.
In der Beiz war säuberlich aufgestuhlt worden, die wenigen Lampen spendeten schummriges Licht. Die kleine Holzbühne war durch einen roten Samtvorhang nur halbwegs verdeckt, vor den Fenstern waren die dicken Nachtvorhänge zugezogen. Es roch dumpf nach Rauch, Holz und verschüttetem Alkohol – der Boden war noch nicht gewischt, wie Caminada feststellte.
Hermine nahm einen Barhocker vom Buffet und schob Caminada einen Aschenbecher zu. «Kaffee?»
«Danke, den könnte ich jetzt tatsächlich vertragen.» Caminada strich durch sein dunkles, fülliges Haar, das nur an den Schläfen leicht grau meliert war und das der Sturm zerzaust hatte. Seinen Hut, ohne den er sonst keinen Schritt aus dem Haus machte, hatte er wohlweislich daheim gelassen.
Hermine hantierte mit dem Kolben der sperrigen Kaffeemaschine und brühte zwei Tassen, als das Licht flackerte. Caminadas dunkle Augen blieben einen Moment verwundert auf dem teuren Kaffeehalbautomaten hängen. Nur im ehrenwertesten und teuersten Hotel Steinbock am Bahnhof hatte er bisher einen solchen gesehen. Anders als die Jukebox mit ihren farbigen Lichtelementen, die an der Wand stand, wo es zu den Toiletten ging. Solche gab es mittlerweile in jeder zweiten Beiz.
«Frau Montalta», begann er, nachdem er einen Gutsch Milch und einen Teelöffel voll Zucker in den Kaffee eingerührt und einen Blick auf den Berg ungewaschenen Geschirrs geworfen hatte, das sich im und um den Schüttstein türmte. «Haben Sie eine Ahnung, wer aus welchem Grund so ein Verbrechen an einem so jungen Fräulein begeht?»
Hermine, die Wirtin mit etwas Oberlippenbehaarung und gekrauster Kurzhaarfrisur, klopfte mehrmals mit der Rechten auf die Bar, goss sich dann einen Schluck Schnaps in den Kaffee und sagte: «Die Kleine hat Probleme gehabt. Etwas hat sie gewurmt.»
«Gewurmt? Deswegen hängt sie doch niemand auf.» Caminada trank leise schlürfend vom heissen Kaffee. Fragend sah er über den Tassenrand hinweg dabei die Wirtin an, die er von anderen Einsätzen her bereits kannte. Grund dafür waren fast immer Männer, die sich erst mit dem Alkohol, dann mit der Wirtin oder anderen Gästen angelegt hatten.
«Das ist das falsche Wort. Seit zwei Wochen war sie unzuverlässig wie sonst was, und das kann ich weiss Gott hier nicht gebrauchen.»
«Das heisst, irgendwas hat das Fräulein Möckli beschäftigt. Und wissen Sie, was der Grund dafür sein könnte?»
«Nein, vergesslich war sie und unruhig, mehr weiss ich nicht. Eben wie das Gatter nach der Fütterung der Hühner nicht richtig zu verschliessen. Weiss der Teufel, was in deren Oberstübli alles los war.» Zur Unterstreichung ihrer Worte tippte sie mit dem Zeigfinger an ihren Kopf.
«Wie lange serviert sie schon hier? In dieser Knelle hier hinten ist es bestimmt für ein so junges Fräulein nicht immer einfach.»
«Wo ist es heutzutage denn schon einfach? Also hier drinnen braucht es gwehrigi Serviertöchtera, die nicht bei jedem Füttla- oder Tütigrapscher in Ohnmacht fallen. Aber zur Not bin ich ja auch hier. Hab denk schon darauf geachtet, dass niemand von meinem Personal zu Schaden kommt, wenn’s mal wieder drunter und drüber gegangen ist. Zur Not half mir der Sepp …»
Auf Caminadas fragendes Gesicht hin holte sie mit einem Schmunzeln einen zünftigen Holzknüppel unter der Bar hervor. Bei dessen Anblick in Hermines kräftiger Hand bezweifelte er nicht die Wirksamkeit, während sie weiterredete. «Aber dass so was Schlimmes, und das auch noch im Schein der roten Laterne, passieren würde, während ich nur einen Steinwurf daneben die Abrechnung mache – mich gruselt’s …»
«Apropos Serviertöchtera – standet nur ihr zwei in der Beiz? Bei vollem Haus, und das an einem Freitagabend, an dem die meisten ihren Wochenlohn bekommen, reicht dies doch bestimmt nicht.»
«Z’Käthy Gruber servierte auch.»
«Und wo ist diese jetzt?»
«Bestimmt daheim. Die wohnt ja mit ihren drei Brüdern unten im Sassal, direkt vor dem Brückli. Dort, wo der Rottweiler immer so tobt.»
«Jaja, wer kennt den Hund nicht. Ich habe soeben wieder Bekanntschaft mit ihm gemacht. Und wann ist sie gegangen?»
«Sie ist kurz vor halb zwei Uhr mit dem Velo losgefahren. Ich musste ihr noch nachrennen, sie hatte ihre Handtasche vergessen.»
«Alleine? Hinunter durch die stockfinstere Schlucht?»
«Ach, das macht der nichts aus. Ist doch eine Gruberin. Das tut sie übrigens jede Nacht, wenn sie schafft. Manchmal gar zu Fuss, wenn sie wieder mal einen Platten hat und ihre Brüder zu faul sind, ihr den zu flicken.»
In dem Moment schlugen die Hunde hinter dem Haus an. Fragend blickte Hermine Caminada an.
«Das wird die Verstärkung sein», stellte der Zweiundvierzigjährige klar. Die Wirtin nahm darauf die Laterne und ging vor die Türe.
Wenige Minuten später trat sie mit zwei uniformierten Landjägerkorps-Beamten und Peter Marugg ein.
«Guata Obig, Walter. Stürmisch heut Nacht.» Marugg, erst dreissigjährig, begrüsste Caminada freundschaftlich, der noch immer an der Bar vor seinem Kaffee sass.
«Hast du den Weg also auch gefunden?» Caminada winkte dabei die beiden uniformierten Polizeimänner zu sich, die bei der Eingangstüre stehen geblieben waren.
«Und?» Die Frage des Rothaarigen mit der runden Nickelbrille im bubenhaft wirkenden Gesicht galt dem Landjäger, während er sich neben diesen stellte, bevor er Hermine zunickte, die daraufhin auch für die Neuankömmlinge Kaffee brühte.
«Ihr habt ja das Fräulein im roten Schein der Laterne hängen sehen. Die beiden Fragen, die sich mir im Moment stellen, sind: Wer hat es getan und wieso? Und dazu brauche ich so einen wackeren Erkennungsfunktionär, wie du einer bist.» Caminada zündete sich eine Villiger-Krumme an. «Weisst du, Peter,