Helvetia 1949. Philipp Gurt

Helvetia 1949 - Philipp Gurt


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      Je tiefer der Landjäger ins Täli fuhr, desto steiler drückten die schwarzen Wände, und kühler Hauch blies ihm entgegen. Der Nachthimmel über ihm hob sich vom Mondlicht getüncht matt ab, bevor wieder Wolkenfetzen vor der mageren Sichel vorbeijagten und die Dunkelheit wie ein schweres Tuch über die Schlucht zogen und fallen liessen.

      Verwesungsgeruch stieg Caminada trotz des Sturmes in die Nase, als er die heruntergekommene Gerberei passierte, die der Alkoholiker Schwinta-Hitsch betrieb. In der Nacht nur schemenhaft zu erkennen: An deren Zaun angrenzend befanden sich die alte Sägerei und der kleine Schrottplatz der Gruber-Sippe, welche sich ebenfalls in den schmalen Flecken Land zwängten, den die Schlucht hier freigab.

      Als er sein Velotöffli mit einem Schwenk an den Rand der rechten Strassenseite dirigierte, schoss in diesem Moment knurrend der Rottweiler der Grubers aus der Dunkelheit auf ihn zu. Das Rasseln der schweren Kette war kaum zu hören, bevor diese den Hund ruckartig vor dem Strassenrand zurückriss. Es war nicht Caminadas erste Begegnung mit dem Tier gewesen, das gewiss jedem Fremden einen Höllenschrecken einjagen konnte, und das auch bei Tag.

      Ein kräftiger Windstoss wirbelte Staub ins Gesicht des Landjägers, als er direkt nach den Gebäuden die alte Holzbrücke über der Plessur überquerte, nur wenige Meter bevor das Geleise vom dunklen Berg verschluckt wurde.

      Auf der rechten Schluchtseite folgte er der kurvigen Strasse wenige hundert Meter bergwärts. In der Dunkelheit türmten sich die Stützmauern aus schweren Natursteinen, die die stotzigen Flanken in Schach hielten, links schützte ein Eisengeländer vor einem Sturz ins Tobel, bis sich wundersam der Meiersboden zwischen den Bergriesen auftat.

      Umsäumt von hohen Laubbäumen, die wellenartig aufrauschend den Wind einfingen, lag am Rande der grossen Waldlichtung die berüchtigte Rote Laterne. Eine Böe liess ein Gatter klappern, während Caminada sein Gefährt auf den schwarzen Gebäudeumriss der Spelunke zuschob, vor dessen dunkler Eingangsfront die Laterne rot leuchtete. Der gespenstisch dunkle Umriss in deren schauerlichem Schein war der Grund, warum er mitten in der Nacht in die Pedale getreten war.

      Als er sich auf wenige Schritte genähert hatte, schlugen im Zwinger hinter dem Gasthaus die Hunde bedrohlich ihr tiefes Gebell an. Keine Minute später schwenkte die hölzerne Eingangstüre auf, sodass gelblicher Schein auf die dreistufige Treppe darunter fiel. Ungeachtet dessen trat Caminada näher an den roten Lichtkegel – in diesem hing, vom Wind sanft pendelnd, die junge Serviertochter Gisela Möckli!

      «Landjäger Caminada?» Hermine Montalta, die stämmige, raubeinige Wirtin, hob eine Petroleumlaterne in die Höhe und kam die Stufen am Eingang herab und über den gekiesten Weg auf ihn zu. In ihrer Linken hielt sie fest umschlossen eine doppelläufige Flinte. Sie schien aufgeregt zu sein. Hinter ihr trat ebenfalls mit einem Gewehr in der Hand Schwinta-Hitsch aus der Türe.

      «Truurigi Sach.» Caminada liess den Blick nicht von der Toten ab, die nun im Licht der Petroleumlampe besser zu erkennen war: Sie war mittelgross und zierlich, trug einen schwarzen Jupe, der nur bis über ihre schmalen Knie reichte, dazu eine weisse, schlichte Bluse, die typisch war für Serviertöchter. Einer ihrer Schuhe lag seitlich umgekippt am Boden, ihr Gesicht war nach vorne eingeknickt, ihr wehendes hellbraunes Haar verdeckte es. Ein aufgeschnittener Jutesack hing seitlich über ihrer linken Schulter. Und noch was nahm Caminadas Aufmerksamkeit in Beschlag – die Tote hing nicht etwa an einem Seil, erst sah es aus wie ein langer Schal, doch beim näheren Betrachten erkannte er die goldbestickten Glaubenssymbole auf einer violetten Stola, die zweifellos einem kirchlichen Würdenträger gehören musste.

      «Frau Montalta, stimmt es, haben Sie das Fräulein gefunden? Und wann?» Caminada drehte sich ihr zu und behielt seine Schlussfolgerung für sich.

      «Stimmt, vor gut einer Stunde», antwortete diese aufgeregt mit ihrer tiefen und kräftigen Stimme, die auch zu einem Mann gepasst hätte. Sie stellte ihr Gewehr an den Baumstamm hinter ihr.

      «Also gegen zwei Uhr?» Caminada griff sich nachdenklich ans Kinn. «Wie lange habt ihr denn diesmal die Polizeistunde überschritten?» Er wusste wie jeder in Chur und den Dörfern ringsum – in der Roten Laterne wurde die Polizeistunde nie eingehalten, und genau das zog Gäste ins Loch.

      «Wir hatten heute nur bis um eins offen, und kurz vor zwei Uhr fand ich sie.» Sie zitterte, als fröre sie.

      «Und wieso haben Sie die Erhängte so spät gefunden? Da geht doch keiner mehr spazieren.»

      «Die Hühner waren schuld, sonst wüsste ich es noch immer nicht.» Sie strich sich mit der Rechten über ihren Mund.

      «Die Hühner? Des Sturmes wegen?»

      In dem Moment riss eine weitere Böe an ihnen. Der Schatten der sich drehenden Erhängten pendelte über den Boden.

      «Nein, ich wurde im Restaurant vom lauten Gegacker hochgeschreckt, hatte gerade die Kassaabrechnung fertig gemacht und wollte ins Näscht. Packte natürlich sofort meine Flinte, die Lampe und stürmte über den Hintereingang raus. Das Gatter zum Gehege stand offen, der Fuchs hatte sich soeben ein Huhn geholt. Ich schoss dem Sauhund noch hinterher, muss im Hellen dann schauen, ob ich den wenigstens angeschossen habe.»

      «Und dann haben Sie die Gisela gefunden?»

      «Nicht sofort. Ich hatte einen Riesenzorn im Ranzen, da die mit Sicherheit nach dem Füttern das Gatter schon wieder offen gelassen hatte. Vor Tagen hatte ich es schon mal bemerkt und sie ermahnt. Deshalb lief ich durch den Hintereingang zurück ins Haus, wollte sie in ihrer Kammer aufscheuchen, um ihr diesmal die Leviten mehr als nur khörig zu lesen.»

      «Und da nehme ich an, ihr Bett war leer.»

      «Ja, Landjäger Caminada.» Verzweiflung stand in ihren Augen. «Ich war mir beim Hochlaufen sicher, dass sie des Schusses wegen entweder im Bett stand oder spätestens danach nach draussen gelaufen sein musste. Ich ging deshalb aus dem Vordereingang, um sie zu suchen – da sah ich sie hier an der roten Laterne hängen.»

      «Wann haben Sie sie denn zuletzt lebend gesehen?»

      «Das ist ja das Verrückte, höchstens etwas mehr als eine halbe Stunde davor.»

      «Wie das?» Caminada sah im gelbrötlichen Schein, dass die Wirtin mit ihren Gefühlen kämpfte.

      «Wir hatten heute volles Haus. Punkt ein Uhr war wie gesagt Polizeistunde, und Gisela und ich räumten bis kurz vor halb zwei nur das Gröbste auf, dann schickte ich sie ins Näscht, während ich noch die Abrechnung machte.»

      Caminada nickte. «Und als Sie sie gefunden hatten, da gingen Sie sofort los, um das Ländjägerkorps zu alarmieren?»

      «Hier hinten gibt’s doch weiterhin kein Telefon. Die Herren Stadträte haben ja jeden Rappen für das Eidgenössische Schützenfest ausgegeben, damit die Stadt nächsten Donnerstag ja gar fein säuberlich und festlich geschmückt zur Eröffnung dasteht. Das Täli hat man wie immer vergessen, als wären die in der Stadt vorne was Mehrbesseres als unsereiner. Die haben doch die Strasse nicht aus Versehen nur bis zum Totengut geteert. Der Name Sandstrasse kommt ja nicht von ungefähr …»

      «Abgesehen davon, dass das Stadtgebiet unten im Sassal beim Brückli endet und wir hier im Meiersboden auf Churwaldner Gebiet stehen, weiss ich schon, was Sie meinen. Aber glauben Sie mir eins: Stände die Rote Laterne auf Stadtgebiet, hätte das Stadtpolizeiamt schon längst andere Sitten aufgezogen. Aber das ist jetzt nicht das Thema. Also, was haben Sie nach dem Auffinden der Toten gemacht? Und wie konnten Sie überhaupt sicher sein, dass sie bereits tot war?»

      Das Aufbegehren der Tälibewohner war auch Caminada seit Jahren bekannt, und deren Anliegen waren auch nicht von der Hand zu weisen. Einige Stimmen sprachen daher sogar von Unterdrückung, weil neben den italienischen Emigranten nur sozial schwache Aussenseiter, Künstler, Trödler und Vaganten im Schattenloch hausten, wo billiger Wohnraum vorhanden war. Allen voran setzte unverhohlen Stadtpräsident Cadlini auf Widerstand, und so wurde kaum ein Franken ins Täli investiert.

      «Landjäger Caminada, es war so», Hermine nahm einen tiefen Atemzug, «als ich sie hängen sah, an den Kleidern erkannte ich sie, hatte sie ja noch diesen Jutesack über den Kopf gestülpt, der mit der


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