Helvetia 1949. Philipp Gurt
Herr Major», antwortete sie und richtete vor dem Gehen ihre Brille, die etwas gross in ihrem mageren Gesicht schien und daher mehr schief als gerade in diesem sass.
«Und was die Stola betrifft», fuhr Caminada fort, als der Major wieder an den Tisch zurückkehrte und Marugg diese aus der Tasche zog und vor ihm auslegte, «da werden wir auf dem Hof vorstellig werden müssen.» Er zeigte auf das aus Gold gestickte Kreuz und den Kelch. «Sie ist reich bestickt. Es muss einen Grund haben, dass sie zur Tatwaffe wurde.»
Kübler blickte auf die Stola, als könne er aus ihr lesen. «Landjäger Caminada …», Caminada wusste, so fingen Sätze an, in denen der Major unmissverständlich seine Meinung kundtun wollte, «du weisst, ihr alle wisst, wie sehr ich Katholik aus ganzem Herzen bin. Einst war ich ein stolzes Mitglied der Schweizergarde am Heiligen Stuhl von Pius dem Zehnten. Und wer diese Jahre erlebt hat, wer einmal dem Papst die Hand reichen durfte, wird dies ein Leben lang nicht vergessen. Ich werde euch direkt zu Bischof Kamber schicken, nachdem ich ihn gesprochen habe. Das mit der Stola muss diskret behandelt werden. Stellt euch bloss die Schlagzeilen vor, so kurz vor dem Eidgenössischen. Es käme zudem einem Generalverdacht gegenüber allen katholischen Priestern und Gelehrten in Chur und Umgebung gleich und wäre für einige Protestanten ein gefundenes Fressen.»
Caminada konnte dieses Argument zwar gut nachvollziehen, und daher hatte er auch die anderen Beamten am Tatort zur Verschwiegenheit aufgerufen, doch die Frage stand im Raum: Was für einen Bezug hatte diese Stola zu der Tat? Denn so ohne Weiteres kam niemand an ein solches Würdenzeichen, und um jemanden zu erhängen, hätte ein einfacher Strick gereicht. Mit dieser Art, ein junges Fräulein zu töten, war unweigerlich auch eine Botschaft des Täters verknüpft, ob gewollt oder getrieben, müssten sie feststellen.
Gegen zehn Uhr erreichten Caminada und Marugg das Täli. Der Sturm der letzten Nacht hatte Äste und Blätter zusammen mit Müll auf die Sandstrasse geweht. Der von einem Ross gezogene städtische Kübelwagen kam nur alle vierzehn Tage, und so überquoll der Abfall neben den Ochsner-Kübeln aus Stahlblech. Am Strassenrand häufte sich der Unrat vor den Häusern, deren Bewohner sich nicht an die Vorschriften hielten und diesen nicht erst am Abfuhrtagmorgen an den Strassenrand stellten. Deshalb hatte der Stadtpräsident im letzten Sommer angeordnet, dass die Müllabfuhr das Täli aussen vor liess, um die Bewohner zu Disziplin zu erziehen. Doch nachdem sich die Abfallberge vor den Häusern weiter türmten und noch schlimmer zu stinken begannen, wurde der ganze Unrat während einer Nacht- und Nebelaktion von diesen in die Plessur geworfen. Dieser Müll wurde aber nicht restlos von der Plessur in den Rhein abgeführt, sondern stank an den Ufern des Plessurbettes angespült auch vorne in der Stadt, sodass Anwohner im Rathaus vorstellig wurden. Ausserdem versaute der Müll auch die Churer Rheinauen bis nach Haldenstein, was ein unrühmliches Bild für alle Zugsreisenden bot, die mit den Schweizerischen Bundesbahnen nach Chur anreisten.
Die Aufräumarbeiten zogen sich in die Länge und zeigten deutlich die Niederlage Cadlinis, sodass dieser ein Sujet für die nächste Fasnacht bot und für Spott und Hohn sorgte und damit wiederum die Kluft zwischen Stadt und Täli weiter vertiefte.
Der kleine Hilfsmotor am Lenker von Caminadas Velotöffli knatterte gleichmässig laut, während Marugg auf seinem neu erworbenen sass, das zwar ebenso einen Krach machte, was aber seinen Stolz darüber nicht minderte.
Der Junimorgen war warm und windig, als sie rauchblaue Abgasschleier hinter sich herzogen. Wetterschmöcker hatten einen Hitzesommer wie vor zwei und sechs Jahren prophezeit, und bis jetzt hatten sie damit recht behalten. Die Morgensonne tauchte die vordersten Häuser im Täli in mildes Licht, doch überall lagen im Gegensatz zum Städtchen kalte Schatten, so auch am Wibersprutz, dem kleinen Wasserfall, der vom ehemaligen Kloster Sankt Hilarien kommend über die Felsen in die Plessur brunste. Das Restaurant Plessurfall, das in der Mitte des Tälis direkt an der Strasse stand und von den Einheimischen nur «d’Falla» genannt wurde, erreichten sie wenige Minuten danach.
Caminada und Marugg hängten ihre Hüte am Eingang an die Haken, die sie des Windes wegen beim Fahren unter den Tschoopa gesteckt hatten, und betraten die Beiz, die den Übernamen «d’Falla» nur deshalb trug, weil wer einmal abends am Stammtisch hockte, nicht vor dem nächsten Tag aus der Beiz wieder rausfand, so zumindest sagte es der Volksmund.
Es roch nach frisch gebrühtem Kaffee, Zigarrenrauch und Holz. Des Schattens im Täli wegen brannte eine verschnörkelte Lampe über dem verwaisten Stammtisch, in dessen Zentrum ein übergrosser runder metallener Aschenbecher platziert war, aus dessen Mitte sich ein Steinbock stolz erhob. Rosetta, die alte Wirtin, wischte soeben mit einem feuchten Lappen einen der Holztische, als die beiden sich an einen der anderen setzten.
Fritz und Köbi, die eineiigen Zwillinge, die als Tagelöhner mal hier, mal da arbeiteten, hockten je vor einem Einerli Roten beim Fenster und pafften selbst gedrehte Zigaretten.
«Mooorga, kai Arbat hüt?» Caminada warf den einzigen Gästen beim Hinsetzen einen fragenden Blick rüber.
«Am Nachmittag dann wieder, unten am Rossboden. Die Zeltstadt muss doch noch fertig aufgebaut werden», brummte Fritz und starrte auf die Tischplatte, als zähle er Ameisen.
«Bis das Fest vorbei ist und alles abgebaut ist, gibt’s jedenfalls genug Sackrappa zu verdienen», fügte Köbi an und blickte Caminada ins Gesicht. «Und ihr zwei? D’Schrooterei um diese Zeit hier hinten im Täli? Das verheisst nichts Gutes. Wer hat was ausgefressen?»
Rosetta, deren Hände, Arme und Gesicht von Altersflecken übersät waren, kam an Caminadas und Maruggs Tisch und unterbrach mit ihrem stark italienischen Akzent das Gespräch, um die Bestellung aufzunehmen.
«Grazie, Signori.» Mit diesen Worten verschwand sie, um die zwei Kaffee zu brühen.
«Ja, Köbi, das wollten wir eigentlich euch fragen», entgegnete Caminada und knüpfte an dessen Frage von zuvor an.
«Ich weiss von gar nichts», erwiderte dieser. «Gell, Fritz?»
Fritz nickte, noch immer nach vorne in sich gebeugt, strich dabei durch seinen braunroten Bart, bevor er an der Zigarette zog, die er zwischen nikotingelben Fingern hielt.
«Wann wart ihr beiden denn zuletzt in der Roten Laterne? Vielleicht wisst ihr das wenigstens?»
«Aha, von dort hinten furzt die Geiss», folgerte Köbi und fügte an: «Gestern Abend. Wir hatten den Wochenlohn erhalten, und ein paar Rappen drängte es dringend aus dem Geldseckel an die frische Luft.» Er lachte.
«Und die Gisela, habt ihr sie beim Schaffen gesehen?»
«Ja, die Möckli, die servierte gestern. A flotti Poppa.» Er formte dabei mit den Händen Brüste und grinste.
«Die haben wir letzte Nacht an der Roten Laterne erhängt aufgefunden – sie ist ermordet worden.»
«Verreckta Khaib! Ist das wahr? Die Gisela?» Köbis Lächeln gefror augenblicklich.
«Ja, die Gisela – will euch ja nicht für blöd verkaufen.» Caminada glaubte, ehrliche Bestürzung oder zumindest Verwunderung bei Köbi zu erkennen, und nickte. «Und? Etwas im Zusammenhang mit ihr gehört? Hatte sie am Abend Krach mit einem der Gäste, oder geschah sonst was Augenfälliges? War einer aufdringlich geworden? Möglicherweise auch in den letzten Wochen?», hakte er nach.
«Gär nüt. Ausser dass gestern Abend der erste Auftritt dieser Looooola war», betonte Köbi deren Namen, als mache er sich über sie lustig und hätte bereits den Schrecken von zuvor vergessen.
«Das sollte auch ein Landjäger erleben», meldete sich überraschend Fritz zu Wort und kicherte verschmitzt in seinen verfilzten Bart. «Fascht füttlablutt isch sie gewesen. Aber äba nur fast.»
«Das kannst du nicht abstreiten, die war ganz nackt gewesen …» Köbi stimmte ins heisere Lachen ein. Die beiden schienen sich gut zu amüsieren.
«Am Füttla isch finschter, aber nit immer windstill», hielt Fritz entgegen und furzte laut, indem er eine Füttlaback dabei hob. «Ohaläz, Gesundheit kommt vor dem Anstand.» Er grinste stumpfsinnig. «Auf jeden Fall war sie ein junges Fräulein, eines, wie es noch niemand in Graubünden gesehen hatte.» Er stierte weiter, diesmal dabei