Helvetia 1949. Philipp Gurt
die vom Tod Möcklis noch nichts gehört hatten, denn er sprach Veranzze nicht darauf an, oder es war ihm zu unangenehm, folgerte Veranzze daraus. Spinelli war unterwegs zur kantonalen Turnhalle, die neben dem Krankenasyl Sand stand, um auf dem kleinen Fleckchen Wiese zu tschutten und auf der Aschenbahn, trotz Hitze, einige Runden zu laufen, wie er sagte.
Als Veranzze den Tod Möcklis ansprach, gab sich Spinelli erschrocken. «Mamma mia! Ist diese wahr? So eine kleines Fräulein tot? Ise kaum zu glaube», gab er im holprigen Deutsch zur Antwort, als hätte er vergessen, dass er sonst mit Veranzze immer in der gemeinsamen Muttersprache redete.
Das Gespräch endete damit, dass Spinelli dem Diakon versprach, am nächsten Tag in den sonntäglichen Gottesdienst zu kommen.
Als Veranzze wenig später beim Totengutbrückli vorbeikam, zog es ihn über dieses auf die andere Schluchtseite, hin zur Abdankungskapelle, in der er morgen den Gottesdienst für die Italiener abhalten durfte.
Bei jedem Betreten sah er hoch auf die goldene Schrift über dem Eingangsportal: «DEM LICHT ENTGEGEN».
Irgendwann würde es auch für ihn endlich so weit sein, und er dürfte im himmlischen Licht entschweben und alles hier zurücklassen, ausser der Liebe. Doch bis dahin musste er sich seinen Platz im Himmel erarbeiten. Sein morgiges Predigtthema würde indirekt auch davon handeln, über Schuld, Sühne und Strafe – und das Himmelreich.
Die Totengutkapelle war zwar keine richtige Kirche, in der er eigentlich auch nicht predigen durfte, es wurde stillschweigend vom bischöflichen Hof toleriert. Aber auch darin sah er ein Zeichen Gottes, denn in einem Gotteshaus, das viele Jahrhunderte schon keine Kirche mehr war, wurde er zur Mission erweckt …
… es war im Jahre 1927 gewesen, an seinem achtzehnten Geburtstag. Der Sonntagnachmittag im Mai, zuhinterst im südbündischen Bergell, im kleinen Bergdorf Casaccia, war so gähnend träge gewesen, dass die Langweile Anselmo wehtat, ja seltsam bedrohlich auf ihn wirkte. Die Zeit schien einmal mehr stillzustehen. Das Leben, das zweifellos irgendwo hinter den vielen Berggipfeln blühte, wie der Frühling hier im Tal, war so weit weg wie der Mond. Sein älterer Bruder war vor zwei Jahren nach Italien gegangen, nach Chiavenna, um Priester zu werden, und kam kaum noch nach Hause.
Seine Eltern Gelsomina und Lorenzo Veranzze waren schon immer strenggläubige Katholiken gewesen, wie nur noch drei der Familien in dem sonst protestantischen kleinen Dorf, das traditionell ausnahmslos aus Steinhäusern erbaut war und dessen Dächer mit Steinplatten gedeckt wurden, die zu den steinernen Bergkämmen passten.
Die Bergflanken über der Waldgrenze und die Gipfel rund um das Tal, das bei Casaccia auf tausendfünfhundert Meter Höhe lag und sich von dort gemächlich bis hinab zum norditalienischen Villa di Chiavenna zog, steckten noch unter einer dicken Schneedecke. Hingegen die stotzigen Wiesen an den Südhängen im Tal lagen in der Wärme der Frühlingssonne, die Bäche sprudelten munter über vor lauter Schmelzwasser. Das Licht und die Wärme kehrten zurück ins abgelegene Tal.
Als Anselmo die Ziegen versorgt, die Lateinaufgaben gewissenhaft erledigt und sein Vater sich zum Bibelstudium ins kleine Arbeitszimmer zurückgezogen hatte, während die Mutter auf der Holzbank vor dem Haus sass, um in den warmen Strahlen Hosen zu flicken, zog es ihn hinaus.
Der Frühling streckte seine Fühler aus, sodass auf den Südhängen, unterhalb des Mischwaldes, in dem Robinien, Birken und Lärchen wuchsen, die weissen und blauen Krokusse das Grün verschwenderisch übersäten. Im Dorf sprossen Kamelien, Forsythien und Primeln und verbreiteten ihren Duft. Die kleinen Eidechsen kletterten munter auf den warmen Natursteinfassaden der Häuser, und die Katzen schnurrten träge in der Sonne liegend. Der harte Winter war nicht vergessen, aber vorbei.
Anselmo hatte seine Hemdsärmel nach hinten gekrempelt, als er die Passstrasse des Maloja hochging, die weiter oben sicher noch einen Monat lang für Fuhrwerke wegen des Schnees gesperrt blieb.
«Anselmo, wohin so eilig?» Die dreissigjährige Schäferin winkte ihm lachend unterhalb des Pfades zu.
Sein Vater hatte ihn schon mehrmals vor ihr gewarnt, ihr Mann war vor zwei Jahren mit dem Sohn nach Italien verschwunden, seither lebte die Frau alleine im Haus, am Rand des Dorfes, und verdiente etwas Geld, indem sie die Geissen und Schafe im Tal hütete und auf den Alpenweiden sömmerte. Dazu verkaufte sie ein Sammelsurium an Kräuter- und Pflanzenmixturen, meist nur im nahen Italien, denn im Tal vertraute ihr kaum noch jemand.
Eindringlich hatte Vater ihn vor des Fleisches Lust gewarnt, viele Male mit ihm deshalb gebetet, damit Anselmo eine von Gott gewollte Ehe erwarten konnte, ohne sich zuvor im Fegefeuer der Triebhaftigkeit zu verbrennen.
Die Schäferin war keine Schönheit, aber auch nicht hässlich. «Unscheinbar» war ebenso eine unpassende Beschreibung, denn sie strahlte eine falsche Fröhlichkeit aus, das hatte er sofort gespürt. Alles an ihr liess ihn eigentlich sich von ihr abwenden, doch sie war ihm gewissermassen überlegen, denn sie war eine erwachsene Frau und er ein Sprössling, der wie der Frühling hinaus ins Leben trieb und nicht alles verstand.
«Anselmo, nun warte doch endlich.» Sie hob den Rocksaum und eilte lachend den Berg hoch, während er weiterging, wenn auch langsamer.
Sie hielt ihn am Arm fest, als sie ihn erreicht hatte. «Anselmo, mache ich dir Angst?» Sie trug den strengen Parfümgeruch an sich, den sein Vater immer sofort an ihm roch, wenn er ihr, wenn auch nur kurz, im Dorf begegnet war. Zu Hause hatte dann Vater jeweils Fragen gestellt und Anselmo ehrlich darauf geantwortet, sodass es immer in langen Gebeten geendet hatte.
Anselmo konnte sich keinen Reim darauf machen, warum er sich nicht von der Schäferin abwenden konnte, einfach davoneilte. Er mochte ihre dunklen Locken ebenso wenig wie ihre seltsamen nervösen Augenzuckungen und ihre Unruhe, die sie dann bekam, wenn sie ihm zu nahe kam. Dabei zog sie manchmal die Oberlippe hoch, sodass die beiden Eckzähne auf der Unterlippe aufstanden. Sie wirkte dann dümmlich und konnte ihre Gefühlswelt nicht verbergen.
«Anselmo, der Frühling ist so schön wie dein Gesicht», begann sie zu reden, damals war er ja noch nicht der Gezeichnete gewesen. Schmeichelnd erzählte sie, wie wunderbar er doch wäre, doch er fühlte schnell, es ging einzig und allein um sie, um das, was sie suchte. Sie zog ihn an den Waldrand, und sie setzten sich ins warme Grün. Sie redete nervös, ihre Augenlider zuckten, während sie seine Hand unter ihren Rock schob.
Noch nie war er einem Mädchen, geschweige einer Frau so nahe gekommen. Nicht mal annährend. Sein Körper reagierte angespannt: Eine Mischung aus Sündenlust, Abwehr und Ekel, weil sie stank, überkam ihn. Das war schlimmer als falsch – es war Sünde. Doch die Schäferin dachte nicht daran, es langsamer anzugehen. Sie schob ihm seine Hose hinunter und zog ihn auf sich. Der Kampf zwischen Gut und Böse begann sich in seinem Innersten zu formen, ganze Armeen, so schien es ihm, marschierten gegenseitig auf.
In ihren Augen sah er nun die Gier, das zu bekommen, was sie wollte, ihr krampfhaftes Lächeln, während er aus einer seltsamen zerstörerischen Gefühlsmischung ihr nachgab, als wäre er zu nahe am Abgrund gestanden und deshalb in sie gefallen.
Keine Minute später packte ihn das blanke Entsetzen, sodass er sich schnell aufrichtete und sich beschämt und voller Ekel die Hose hochzog, als in diesem Moment sein Vater mit einem Stock in der Hand nur wenige Meter von ihm entfernt auftauchte.
Erzürnt hob der Vater den schweren Stecken und liess diesen auf die Teufelshure, wie er sie dabei anschrie, hinunterfahren, immer wieder, bis sie blutend und wankend Richtung Dorf flüchtete.
Anselmo selbst floh in grosser Angst den Pfad hoch und verschwand zwischen den Bäumen. Vögel zwitscherten munter aus den Zweigen, als er wenige hundert Meter oberhalb Casaccia die nur aus Stein erbaute Wallfahrtskirche San Gaudenzio völlig ausser Atem erreichte.
Seit Jahrhunderten stand sie dort, nun war sie baufällig, und der Himmel war ihr Dach geworden. Doch wer sie betrat und unter den intakten Chorbögen weiter ins Innere schritt, den überkam das Gefühl von Heiligkeit.
Seit Anselmo denken konnte, hatte Vater ihm und seinem älteren Bruder, der den Namen des heiligen Gaudentius trug, die Geschichte dieser Wallfahrtskirche erzählt, die doch so eng mit der ihrigen Familiengeschichte verknüpft war, wie er darin