Kopflos am Aasee. Christoph Güsken

Kopflos am Aasee - Christoph Güsken


Скачать книгу
geschweige denn um Feste, deren Zauber darin bestand, dass sie nur einmal im Jahr stattfanden und man ihnen langsam und behutsam entgegenfieberte.

      Exhauptkommissar Niklas de Jong ärgerte sich über den Kastaniengeruch. Er verstärkte jene winterliche Stimmung, die sich – auch wetterunabhängig – gerade seit dem heutigen Morgen in seinem Inneren ausbreitete. Es war halb elf am Vormittag, ein grauer Dienstagvormittag. Vor einer guten halben Stunde war Giulia abgereist.

      Dabei hatte alles so vielversprechend begonnen. Mehr als vielversprechend. Alles versprechend. Als Giulia am Samstagabend überraschend angerufen und sie lange gesprochen hatten. Dass sie sich immer wieder getrennt hatten und doch nie voneinander losgekommen waren, jedenfalls nicht so richtig. Was ja wohl auch etwas zu bedeuten habe. Und sie vorgeschlagen hatte – sie hatte es von sich aus vorgeschlagen! – ob sie noch einen neuen Versuch miteinander starten sollten. Nach all den Jahren die Uhren auf Null stellen. Alles auf Anfang. Natürlich hatte de Jong nicht lange überlegt. Keine Sekunde. Was gab es da auch zu überlegen? Sicher, er kannte Giulia lange genug, um zu wissen, dass die Sache nicht ganz ohne war und eventuell kompliziert werden konnte. Dass bei allem Enthusiasmus Behutsamkeit und Fingerspitzengefühl gefordert waren. Aber er wusste, worauf er sich einließ, und das schloss auch das Wissen darum ein, dass sich jeder Aufwand lohnte.

      Und es war ein Neuanfang geworden, der nichts zu wünschen übrig ließ – genauer gesagt, er hatte anfangs nichts zu wünschen übrig gelassen: Der Montag war ein urgemütlicher Tag in der Stadt gewesen, kühl zwar, aber bei strahlendem Sonnenschein, gekrönt durch ein romantisches Abendessen bei dem Italiener, den sie so manches Mal aufgesucht hatten, um einen Jahrestag zu begehen, dessen abschließender Höhepunkt in romantischem Sex auf dem Oude Meisje bestanden hatte. In dieser Nacht hatte de Jong mitten im Herbst keinerlei Herbstgefühle verspürt, stattdessen vielmehr intensive Frühlingsgefühle. Und das – davon war er felsenfest überzeugt – wäre genau so weitergegangen, wenn die Heizung nicht ausgefallen wäre. Ein banaler technischer Defekt, nichts weiter, machte alle Romantik und allen Neubeginn zunichte.

      Zugegeben, es kam nicht von ungefähr. Die Heizung hatte nicht erst seit gestern, sondern immer mal wieder gezickt, nur hatte de Jong das im Sommer schlicht aus den Augen verloren. Ein fataler Fehler, der sich jetzt rächte, denn die Heizung war schließlich nicht irgendeine Anlage unter vielen anderen, so wie die Wasserleitung, die Klospülung oder die Kaffeemaschine. Der Heizung kam eine herausragende, geradezu beziehungsrelevante Stellung zu. Vor allem jetzt, in diesen Nächten, in denen das Thermometer hin und wieder unter null Grad fiel, wenn auch nur ganz geringfügig. Affenkalt, sagte Giulia. Nicht kalt, sondern affenkalt. Keine Wärmflasche in einem noch so flauschigen Bärenkostüm, keine zusätzliche Wolldecke vermochte etwas gegen diese Affenkälte auszurichten. Was aber de Jong streng genommen auch nicht überraschen konnte, denn Giulias berüchtigte Verfrorenheit war ihm seit Jahrzehnten vertraut. Frieren mochte nur in gewisser Weise eine Tätigkeit sein und schon gar niemand bezeichnete sie als Kunst oder Sportart. Trotzdem blieb es eine Tatsache, dass in Sachen Frieren Giulia so leicht niemand das Wasser reichen konnte. Ihre Frostanfälle waren berüchtigt und kamen mitunter völlig unerwartet, wie aus dem Nichts, sobald nur die Temperatur unter die Zwanzig-Grad-Marke fiel: Giulia war imstande, mitten in der Sonne einen Winterpullover überzuziehen, zur Verblüffung aller Umstehenden und ohne vor Hitze auch nur ansatzweise umzukommen. Und nicht nur einmal hatte sie es geschafft, mit Mütze und Handschuhen an einem Strand auf einem Handtuch zu sitzen.

      Aber all das war nichts Neues gewesen. Neu war, dass Giulia inzwischen dazu neigte, alltägliche, rein technisch bedingte Pannen auf eine grundsätzliche, fast metaphysische Ebene zu heben. »Es ist ja nicht nur die Kälte«, hatte sie gesagt. Nicht nur, dass sie eine Nacht gebibbert statt geschlafen hatte, wie sie jedenfalls behauptete. »Es passt irgendwie.«

      »Es passt? Was meinst du denn damit: Was passt?«

      »Dass die Heizung ausfällt. Dass es kalt ist. Hier auf deinem Schiff.«

      »Das ist kein Schiff, sondern ein Hausboot.«

      »Von mir aus.«

      »Aber es passt doch gar nicht. Im Gegenteil. Sieh dich doch an. Es ist mehr als unpassend.«

      »Ich meine damit, es gibt Menschen, die so was magisch anziehen, Niklas. Kälte. Mord. Dunkle Dinge. Sie ziehen es an wie ein Magnet, und niemand kann erklären, wieso.«

      »Das mit den Morden ist doch Vergangenheit«, widersprach de Jong. »Außerdem habe ich die nicht angezogen, sondern aufgeklärt.«

      »Stimmt. Aber trotzdem hast du dich auf diesem Hausboot eingerichtet, und es ist dir egal, ob man friert.«

      »Wieso sollte mir das egal sein?«

      »Worauf ich hinauswill: Wärme und Kälte – das ist nicht das, was das Thermometer anzeigt. Vielleicht von außen besehen. Aber es hat auch eine tiefere, menschliche Dimension.«

      »Mag sein«, gab de Jong zu. »Aber hier geht es doch schlicht und einfach darum, dass die Heizung streikt. Warum reden wir nicht darüber, anstatt theologisch zu werden?«

      »Schlicht und einfach«, wiederholte sie. »Für dich ist das also eine Lappalie?«

      »Nein, natürlich nicht. Ich werde gleich heute jemanden anrufen, der sich drum kümmert.«

      Sie schwieg einen Moment. Einen unpassend langen Moment, weil er es immer noch nicht schaffte, das Wesentliche hinter der rein oberflächlichen Ebene wahrzunehmen. »Du denkst, ich mache aus einer Mücke einen Elefanten?«

      »Aber wer sagt das denn?«

      »Es wäre nicht das erste Mal, dass du das von mir denkst.«

      Und so waren sie am Ende wieder dort angelangt, wo keiner von ihnen hingewollt hatte: dass sie sich gegenseitig vorwarfen, den anderen gar nicht verstehen zu wollen, mehr noch; das noch nie gewollt zu haben. Und als Giulia schließlich gesagt hatte, es sei wohl besser, wenn sie doch schon jetzt ihren Koffer packte, hatte er es nicht mal geschafft, Einspruch zu erheben. Bevor sie von Bord ging, hatte sie sich nur noch einmal kurz umgesehen.

      De Jong war die Lust vergangen, einen Installateur anzurufen. Ihm war danach, sich nach Achtern zu verziehen und den Rest des Vormittags mürrisch auf den Kanal hinauszustarren.

      Aber selbst das war ihm nicht vergönnt. Ausgerechnet heute musste Detlev Rickelrath seine Aufwartung machen. Rickelrath, der Weltenbummler, wie immer mit jeder Menge Reiseanekdoten im Gepäck. Er kam jedes Mal unangekündigt und heute direkt vom Hauptbahnhof, hatte den Trekking-Rucksack, an dem leere Plastikflaschen und eine verschwitzte Isomatte festgeschnallt waren, noch auf dem Rücken. So stand er da und ließ seinen weltgewandten Blick kritisch über das Deck schweifen. »Ich weiß nicht, jedes Mal, wenn ich hier stehe«, sagte er, »kommt mir das alles kleiner vor.«

      »Das solltest du nicht auf die leichte Schulter nehmen«, brummte de Jong schnippisch. »Hört sich für mich nach einem Fall für den Augenarzt an.«

      Detlev Rickelrath war Globetrotter mit Leib und Seele. Früher hatte er sich in einem Reisebüro verdingt, das aber eines Tages vom Online-Reise-Boom überrollt worden war. Während Rickelrath großzügig geerbt hatte, worauf er sich selbst vorgeschlagen hatte, auf die lästige Jobsuche zu verzichten und stattdessen die Chance zu ergreifen und sein weiteres Leben mit Reisen zu verbringen. »Reisen bildet«, betonte er bei jeder Gelegenheit. »Du machst ganz andere Erfahrungen, wirst bescheidener und lernst das, was du hier hast, mit ganz anderen Augen zu sehen.«

      »Vielleicht reicht aber auch schon eine Brille«, schnappte de Jong genervt.

      Rickelrath war ein kerniger Typ, braungebrannt und wettergegerbt, einen Kopf größer als de Jong. Ein Jahrzehnt jünger und topfit, weil er, wie er sagte, jeden erdenklichen Langstreckenwanderweg auf dieser Erde schon hin- und zurückgewandert war. Letztes Jahr hatte er von einer Antarktis-Tour berichtet, auf den Spuren von Roald Amundsen, in historischen Schuhen – also keine moderne Wärmetechnik, sondern Winterschuhe nach Stand des neunzehnten Jahrhunderts und selbstgestrickte Socken. Und heute kam er direkt aus Australien, vom Ayers Rock.

      »Von da oben kommt einem bestimmt auch alles kleiner vor«, vermutete de Jong.


Скачать книгу