Kopflos am Aasee. Christoph Güsken
Gegen Mittag radelte er zum Aasee, um sich einen ersten Eindruck vom Tatort zu verschaffen. Das erwies sich als recht schwierig, nicht nur weil die Spurensicherung das Ufer großräumig abgesperrt hatte. Sondern auch, weil die schockierenden Nachrichten die Touristen hergelockt hatten. Davon gab es eine Menge in Münster, und Touristen zählten bekanntlich zu den neugierigsten Spezies überhaupt. Hunderte von ihnen lungerten am grasbewachsenen Seeufer herum, blockierten die Joggingstrecken, sodass auch die Läufer nicht anders konnten, als zu stoppen und einen Blick auf das abgesperrte Areal zu riskieren. Von der Seeseite näherten sich ganze Flottenverbände von Ruder- und Tretbooten, die einige Polizeibeamte zur See nur mit Mühe davon abhielten, an Land zu gehen und den Tatort zu entern. So gut wie alle Schaulustigen hielten ihre Smartphones in die Höhe – ein seltsamer Anblick, als wäre der erhobene Arm eine Geste der Anteilnahme oder der stumme Gruß einer verschworenen Geheimsekte.
Natürlich gab es keinen Leichnam zu sehen. Die Handys starrten vielmehr auf das Meer aus Schnittblumen, die Fans und entsetzte Bürger jenseits der Absperrung niedergelegt hatten. Dazwischen steckten auch Fotos und Bücher von Charles Nöck, handgemalte Pappschilder, auf denen Du fehlst uns!, Wir sind Charlie! und Was soll jetzt werden? stand. Das letzte konnte de Jong nur lesen, indem er sich auf die Zehenspitzen stellte und über die Köpfe hinweg und zwischen den erhobenen Handy-Armen hindurchlinste. Und dann rempelte ihn jemand von hinten an und beschwerte sich, dass de Jong ihm »mitten im Bild« herumstehe.
Der Exkommissar wandte sich ab und trat den Rückweg an, geriet auf dem Weg zu seinem Fahrrad noch in eine gut besuchte Krimi-Stadtführung. Normalerweise klapperten diese Führungen in der City alle Sets ab, an denen Thiel und Börne schon mal gedreht hatten, heute war die grauenhafte Tat gut für einen aktuellen Abstecher an den Aasee, weil man endlich mal einen »authentischen« Mord-Schauplatz besichtigen konnte. De Jong hielt still und ließ das Menschenrudel an sich vorüberziehen, dann atmete er durch und schwang sich auf sein Rad.
Angesichts des Rummels hielt er es für besser, sich seine Informationen schriftlich zu verschaffen. In der Innenstadt angekommen, besorgte er sich eine Tageszeitung, bestellte in einem Café einen Kaffee und widmete sich dem Aufmacher auf der ersten Seite.
BRUTALES GEMETZEL UNTER DER TORMINBRÜCKE
Münsteraner Starautor ermordet.
Die Bürger unserer friedliebenden Stadt stehen zusammen angesichts einer brutalen Mordtat. Seit gestern Nacht scheint die Zeit stehen geblieben zu sein. Charles F. Nöck, ein Sohn dieser Stadt und großer Schriftsteller, ist nicht mehr. Er wurde das Opfer eines feigen Mordanschlages. Ingolf Bolte, der Agent des Autors und sein langjähriger Freund: »Charlie wollte sich einfach nur am Aasee die Beine vertreten. Das hat er oft gemacht, wenn er sich vor einem großen Auftritt sammeln wollte.« – Der große Auftritt, damit ist der Start seines neuen, mit großer Spannung erwarteten Werkes gemeint, der als ein Mega-Event der Extraklasse in die Annalen der Stadt eingehen sollte. Zahllose Fans aus aller Welt sind nur deswegen angereist, die Hotels der Stadt sind komplett ausgebucht. Leser, die sich auf Mord und Totschlag gefreut hatten und denen der Spaß daran jetzt fürs Erste vergangen ist.
Bis jetzt gibt es noch keine Spur, wer hinter dieser barbarischen Tat stecken könnte. Hauptkommissar Armin Selters, der Leiter der Mordkommission, kündigte indes an, dass man alles unternehmen werde, um den Mord so bald wie möglich aufzuklären.
»Dies ist die Stadt des Westfälischen Friedens, sie steht für Toleranz und Weltoffenheit«, erklärte der Oberbürgermeister, der inzwischen einen terroristischen Anschlag ausschloss. »Für Fahrräder und herzhaftes Essen. Barbarei hat bei uns keinen Platz.«
Wie kein anderer hat Nöck die Spannungsliteratur in diesem Land geprägt. Viele begeisterte er, einige mag er verstört haben mit seiner Art, Grenzen des Geschmacks beizeiten zu überschreiten und Dinge in schonungslos blutiger Härte darzustellen. Aber alle faszinierte er auf seine Weise. So trauert die literarische Welt nun um einen ihrer Großen. Die Lücke, die Charles Nöck hinterlassen hat, wird sich wohl so schnell nicht schließen.
De Jong dachte gerade über einen zweiten Kaffee nach, als das Telefon klingelte. Er faltete die Zeitung zusammen und kramte sein Handy aus der Tasche. »Ja?«, meldete er sich.
»Hier ist Till«, sagte eine männliche Stimme. »Ich bin jetzt angekommen.«
»Till?«, fragte de Jong, nachdem er einen Augenblick überlegt hatte. »Welcher Till?«
»Till Grönewald.« Die Stimme klang trotz aller Nachsicht leicht irritiert. »Ich hatte dir doch geschrieben, dass ich heute …«
»Stimmt, ja. Oh Gott!«, unterbrach ihn de Jong, dem urplötzlich einfiel, was er über die Sache mit Giulia komplett vergessen hatte.
»Was ist? Passt es dir etwa zeitlich nicht?«
»Doch, doch. Sicher, wie kommst du darauf? Kein Problem.«
Grönewald hatte er vor etwa einem Jahr auf einem Literatur-Workshop in Holzwickede kennengelernt. Nach dem offiziellen Teil hatten sie zusammengesessen, und de Jong hatte erzählt, dass er sich aus dem Kripo-Dienst zurückgezogen habe. Worauf Grönewald ihm gratuliert hatte, weil die Kripo seines Wissens sowieso von Agenten des Systems unterwandert sei. De Jongs Frage, welche Agenten welchen Systems er denn meine, parierte Grönewald mit der Gegenfrage, ob de Jong schon mal darüber nachgedacht habe, warum gerade prominente Morde niemals aufgeklärt worden seien: der an John F. Kennedy, an Olof Palme, an Uwe Barschel. Und das seien nur Beispiele.
»Oder du schreibst ein Buch und kein Verlag will es drucken. Dann stellst du dir doch die Frage: Wieso ist das so? Wem trete ich damit auf die Füße? Warum ziehen sie alle den Kopf ein?«
»Und? «, erkundigte sich de Jong neugierig. »Warum?«
Grönewald hatte mit den Schultern gezuckt wie einer, den mittlerweile nichts mehr schockieren konnte. »Und dann kommt eines Tages ein anderer mit dem Stoff groß raus. Und du fragst dich, woher er den wohl hat.«
»Woher denn?«
»Ach egal. War doch nur ein Beispiel.«
Für de Jong hatte das Ganze allzu sehr nach Verschwörungstheorie geklungen. – Das wäre, hatte sein neuer Bekannter darauf erwidert, wenn man glaube, dass Aliens auf der Erde gelandet seien. Stimmt, meinte de Jong, und Grönewald fragte, woher er denn wissen wolle, dass dies nicht der Fall sei. Angenommen nämlich, es sei der Fall, frage sich doch, wieso alle Menschen diese Tatsache als Verschwörungstheorie abtäten.
Die Nacht war damals ziemlich lang geworden und am Ende hatte de Jong in einem Zustand tumben Halbschlafs eine dieser vagen Einladungen ausgesprochen, dass Till sich doch auf jeden Fall mal melden solle, wenn ihn irgendetwas nach Münster verschlage.
Till Grönewald stammte aus Wernigerode und betrieb dort einen Shuttledienst, der die Touristen in einer benzinbetriebenen Bimmelbahn durch den historischen Ort zum Schloss hinauf und wieder zurück kutschierte. Letzte Woche hatte er die vage ausgesprochene Einladung angenommen.
»Warte kurz auf mich«, sagte de Jong. »Ich bin schon auf dem Weg. Gib mir fünf Minuten.«
Aristoteles – den echten Nachnamen hatte de Jong vergessen, es war irgendeiner dieser komplizierten griechischen Namen, die man sich nicht merken konnte – betrieb ein Restaurant am Bremer Platz, der von manchen als die erdabgewandte Seite des Hauptbahnhofes bezeichnet wurde. Als ehemaliger Chef der Kripo-Kantine hatte er sich eines Tages selbstständig gemacht und bot seinen ausgewählten Gästen seitdem die breite Palette der griechischen Küche. Aristoteles war über die Maßen gastfreundlich und besaß über dem Restaurant eine kleine Wohnung, die er hin und wieder an Gäste vermietete. Natürlich hatte er nichts dagegen einzuwenden, dass der Mann aus Wernigerode hier logierte.
Als de Jong eintraf, hatte der Wirt Grönewald längst einquartiert und ihn anschließend in sein Lokal gebeten, um ihm zwei Ouzo zu spendieren. Der Exkommissar bekam auch einen, und der neue Gast damit seinen dritten.