Kopflos am Aasee. Christoph Güsken
de Jong. »Ich habe eine Kantinen-Allergie.«
»Wir können uns auch in einem Park treffen oder an einer Bushaltestelle. Du bist doch derjenige, der alles auf den Tisch legen wollte.«
»Na gut. Dann bis gleich. – Warte, noch eine letzte Frage: Diesen Vertrag – hast du den per Mail geschickt oder per SMS?«
Bühlow hörte sich jetzt wirklich sauer an: »Du hast ihn also doch noch nicht gelesen!«
»Nein, nicht so richtig. Tut mir leid. Aber das ist das erste, was ich jetzt gleich mache.«
De Jong fand den Honorarvertrag als PDF-Dokument in seinem E-Mail-Postfach. Er war recht allgemein gehalten, nichts Besonderes, und davon, dass der Unterzeichnende bestätigte, wie irgendjemand zu ticken, konnte keine Rede sein. Angesichts der Höhe des Honorars sah es eher so aus, als hätte Hauptkommissar Bühlow für seinen Beinahe-Kollegen ganz schön was herausgeholt. De Jong beschlich ein schlechtes Gewissen, weil er Bühlow eigentlich hätte danken müssen; stattdessen hatte er ihm diese schräge Szene am Telefon gemacht. Also druckte er das Dokument aus, unterschrieb es und scannte es ein, um es an die Kripo Münster zu schicken. Anschließend simste er an Bühlow: Vertrag ratifiziert und abgeschickt.
Dann an die Arbeit, kam es knapp zurück.
… Arbeit?
Vielleicht liest du dich schon mal in die Materie ein.
Das reicht aber nicht. Wenn schon, kommt alles auf den Tisch.
Na schön. Also dann bis gleich am Friesenring.
De Jong räumte die Frühstückssachen unter Deck. Der Duschvorhang war inzwischen aufgegangen, so dass es geradezu eine Freude war, sich in die Stadt zu begeben, wo die Sonne alle herbstlichen Farben zum Leuchten brachte.
Eine gute Viertelstunde später erreichte der ehemalige Kommissar und angehende Honorar-Profiler das Polizeipräsidium am Friesenring, und obwohl er unterwegs in einer Buchhandlung Halt gemacht hatte, um sich den Köpfesammler von Charles Nöck zu besorgen, war er viel zu früh, bis zur Verabredung mit Bühlow in der Schmiede war es noch mehr als eine Stunde. Aber de Jong wusste die Zeit zu nutzen. Er zog sein Handy, wählte Camillas Nummer, erreichte aber nur die Mailbox. Also entfaltete er den bunten Flyer, den sie ihm gestern zu später Stunde zugesteckt hatte. Laut Anfahrt-Skizze lag die Praxis für Paartherapie Gulik & Fromm ganz in der Nähe.
Die Räumlichkeiten befanden sich im obersten Stockwerk eines der Gründerzeithäuser im Kreuzviertel – mit blendend weißer Fassade, an der das ganze Jahrhundert spurlos vorübergegangen zu sein schien, was das Gebäude hundertmal neuer aussehen ließ als die nagelneuen Bürohäuser, die gleich um die Ecke auf einem ehemaligen Schulhof wie Pilze aus dem Boden geschossen waren. Innen war das Haus so intensiv kernsaniert, dass man den Geruch der frisch ausgepackten Einrichtung einzuatmen glaubte und sich selbst bei jedem Schritt die Treppe hinauf älter und renovierungsbedürftiger vorkam. Ideal für ein Objekt, das mit therapeutischen Praxen regelrecht gesegnet war, mit einer Praxis für Gruppentherapie im Erdgeschoss, für Naturheilverfahren darüber und Physiotherapie im zweiten.
De Jong rechnete nicht damit, die Praxis offen vorzufinden, nahm aber auf gut Glück den Türknauf in die Hand. Die Tür war nicht verschlossen, also trat er ein. Ihn erwartete ein schlicht, aber ansprechend gehaltener Empfangstresen – helles Holz mit Glas- und Aluminiumelementen. Hohe Sprossenfenster sorgten für hereinflutendes Sonnenlicht, linker Hand befand sich der Wartebereich, geradeaus ein kleiner, in frischen Farben gehaltener Flur, der zu den beiden Therapieräumen führte – Raum zwei für Hauke Fromm, Raum drei für Dr. Gulik. Dahinter kamen nur noch eine Küche und die Toiletten.
De Jong ließ sich auf einem weichen Drehstuhl hinter dem Empfangstresen nieder. Gegenüber an der Wand hing ein abstraktes Kunstwerk, das denen glich, die er auf der Medea gesehen hatte. Hinter dem Computermonitor befand sich eine Art schwarzes Brett, auf dem mit Heftzwecken allerhand Zettel befestigt waren. Post-its und Urlaubspostkarten. Eine zeigte die Skyline einer mittelalterlichen Stadt – Greetings from Aberdeen stand darunter in einer fetten, roten Schrift. De Jong schaute sich die Rückseite an. Sie war aus dem vorletzten Sommer und stammte laut krakeliger Unterschrift von Hauke. Camilla hatte, wie eine andere Postkarte erwies, etwa vier Wochen später in Sidney geweilt. Er in den kalten Norden, sie in den heißen Süden. Vielleicht sollte ich meine Suche also nicht hier, sondern in Schottland beginnen, überlegte de Jong.
Er zog das Foto aus der Tasche. Das Porträt eines Mannes Anfang oder Mitte vierzig mit glattem Gesicht, das leicht glänzte, und einer modischen Igelfrisur. Aus dem Mundwinkel baumelte lässig eine E-Zigarette. Irgendwie nicht der Typ Therapeut, fand de Jong, er sah eher nach einem Hipster aus, der gerade irgendein Start-up anschob. Fromm hatte ein breites, leicht herablassendes Lächeln auf den Lippen und sein Blick war auf etwas gerichtet, das sich seitlich von ihm, außerhalb des Bildes, befand; jetzt erst erklärte sich das seltsame Format des Fotos: Auf der linken Seite wies es eine unregelmäßige Schnittkante auf. Jemand hatte dasjenige, auf das Hauke blickte, kurzerhand abgeschnitten. Wer? Camilla? Hatte sie geschnitten oder war sie diejenige auf dem Bild? Oder beides? De Jong konnte selbst nicht fassen, was für ein lausiger Detektiv er war, und schwang sich aus dem Stuhl.
Im Wartezimmer stieß er auf ein weiteres schwarzes Brett – hier wurden die Klienten auf Workshops, Kurse und Veranstaltungen zum Thema Paartherapie hingewiesen. Zum Beispiel auf das Freundlichkeits-Training nach C. Gulik, jeden zweiten Mittwoch im Monat, oder ein Super-Sparangebot: Pärchen-Therapie. Die Paartherapie-light zum Kennenlernen. Fünfzig Prozent Ermäßigung, jetzt anmelden! Ein bunter Flyer warb für einen Wochenendworkshop, der in der Uniklinik stattfand:
Ars belli – die Kunst des Streitens nach U. von Hengebrügge. An diesem Wochenende werden wir in die grundlegenden Streittechniken einer Zweierbeziehung eingeführt. Wir lernen, dass es gar nicht so leicht ist, einen Streit einfach so »vom Zaun zu brechen«, und werden das höchst komplexe Geschehen in seine unterschiedlichen Phasen aufgliedern und aufmerksam anschauen. In Kleingruppen werden wir anschließend unter anderem folgende Fragestellungen in Angriff nehmen: Wie gewinne ich den Konflikt, und wenn nicht, wie sieht ein Waffenstillstandsabkommen aus? Die TeilnehmerInnen erwartet ein spannendes Wochenende, aus dem sie viel für ihre eigene Lebens- und Beziehungssituation ziehen werden. (Begrenzte Teilnehmerzahl, nur Paare, rechtzeitig anmelden!)
De Jong fuhr herum, als sich plötzlich jemand hinter ihm räusperte.
Da stand eine Frau. »Wie? Ist jetzt doch offen?«, fragte sie verwundert. Die Frau war klein, dunkelhaarig und schätzungsweise Mitte vierzig. Sie trug eine dickrandige Brille, die die Augen größer aussehen ließen, als sie waren. Über die Jeans hatte sie eine Schürze mit einem Blumenmuster geschnürt.
»Wer sind Sie, bitte?«, erkundigte sich de Jong.
»Dasselbe kann ich Sie ja wohl fragen.«
»Und? Tun Sie’s?«, fragte de Jong zurück.
Sie musterte ihn, indem sie den Kopf zur Seite neigte. »Schymanski, Ludmila«, sie reichte ihm die Hand. »Ich mache hier sauber.«
»De Jong, Niklas«, sagte de Jong. »Ich bin auf der Suche nach Hauke Fromm. Haben Sie ihn zufällig gesehen?«
»Der Chef ist doch in Sachen Forschung unterwegs, oder nicht? Am besten, Sie rufen an und lassen sich von der Frau Doktor einen Termin geben.«
»Ich bin kein Patient«, sagte de Jong. »Was für eine Forschung?«
Sie zuckte mit den Schultern. »Woher soll ich das wissen? Irgendwas Philosophisches.«
»Sie meinen Psychologisches?«
»Oder so. Wollen Sie einen Kaffee?«
Der Exkommissar sagte nicht nein und folgte Ludmila den Flur entlang in eine winzige Küche. Sie nahm eine Glaskanne von der Heizplatte, füllte die Kaffeemaschine mit Wasser und schaltete sie ein.
»Kennen Sie Dr. Fromm näher?«,