Kopflos am Aasee. Christoph Güsken
während sie schon den Rückweg antrat. »Hätten Sie heute Abend eventuell Zeit? Ich meine, du.«
Die rothaarige Frau, schon an Land, blieb stehen und drehte sich noch einmal um. »Warum nicht?«, meinte sie. »Dann um neunzehn Uhr? Ich koch uns was Leckeres.«
»Tut mir leid, dass ich dir so in dein Date hineingegrätscht bin«, sagte Bühlow wenige Minuten später. Er war noch recht neu bei der Kripo. Sein Onkel, de Jongs alter Freund Eugen Küppers, hielt ihn mindestens für den neuen Kurt Wallander.
»Das war kein Date«, stellte de Jong richtig.
Sie saßen auf Deck und machten sich über den Pflaumenkuchen her.
»Ich hätte es auch nicht gemacht, wenn es nicht dringend wäre. Wir haben einen Mordfall.«
»Interessant«, sagte de Jong, »aber ich bin nicht mehr bei der Mordkommission. Gottseidank.«
»Genau«, sagte Bühlow. Dieses Genau, selbst an Stellen, wo es nicht passte, war eine Art Tick von ihm. »Es ist aber nicht irgendein Mord.«
»Was ist denn irgendein Mord?«
»Der Tote ist Charles Nöck.«
De Jong pfiff durch die Zähne. »Der Charles Nöck? Der Bestseller-Nöck?«
»Genau der. Sein Torso wurde heute Morgen am Aasee-Ufer aufgefunden. In der Nähe der Torminbrücke.«
»Sein Torso?«
»Er wurde geköpft. Sauberer Schnitt.«
»Und der Kopf?«
»Ist verschwunden. Nöck ist erst gestern in die Stadt zurückgekehrt.«
»Zurückgekehrt?«
»Er hat früher hier gelebt und studiert. BWL.«
»Das wusste ich ja gar nicht«, meinte de Jong. Er nahm sich noch ein Stück Pflaumenkuchen.
»Damals kannte ihn ja auch keiner«, sagte der junge Kommissar. »Genau. Und morgen sollte eigentlich sein neues Buch vorgestellt werden. Der Frauenesser. Eine Bühnenshow in der Halle Münsterland mit allem Drum und Dran.«
»Der Frauenesser«, meinte de Jong mit einem leicht abfälligen Unterton. »Na ja, romantische Liebesgeschichten waren nie sein Ding.«
»Und das ist auch der Punkt. Du schreibst ja auch Krimis, stimmt’s? Und da dachte ich – und der Chef fand übrigens auch, dass das eine gute Idee ist –, dass wir dich hinzuziehen. Weil du sozusagen auf beiden Seiten stehst.«
»Auf beiden Seiten? Mörder und Mordopfer?«
»Nein. Du bist erfahrener Kriminalist und weißt gleichzeitig, wie so ein Mann tickt.«
»So ein Mann. Wen meinst du?« De Jong schüttelte den Kopf. »Aber er tickt nicht mehr, das ist doch das Problem. Und mit Durchgeknallten, die Starautoren den Kopf abschlagen, kenne ich mich überhaupt nicht aus.«
Eine Weile schwiegen sie und starrten auf die graue Wasseroberfläche des Dortmund-Ems-Kanals. De Jongs Blick wanderte weiter, hinüber zur Luxusjacht. Nachbarschaft, dachte er, schön wär’s ja, aber Pflaumenkuchen allein macht uns noch nicht zu Nachbarn.
»Nöck war Autor, und du bist auch einer«, gab Bühlow zu bedenken.
»Das ist etwas völlig anderes. Wir leben in verschiedenen Welten. Er macht Millionen mit seinen Thrillern über essbare Frauen, und ich bleibe auf meinem Kram sitzen und muss sehen, wie ich zurechtkomme.«
»Meinst du nicht, dass es angesichts der Tat angebracht wäre, den Neid erst mal hintanzustellen?«
»Wer sagt, dass ich neidisch bin?«, brauste de Jong auf und war ganz kurz davor zu sagen, dass sie sich gefälligst einen anderen für die Sache suchen sollten. Ganz kurz davor. Aber er verkniff es sich, weil er sonst ja erst recht neidisch gewirkt hätte.
Bühlow zog einen gelben Schnellhefter aus seiner Umhängetasche. Er nahm großformatige Schwarz-Weiß-Fotos heraus und breitete sie auf dem Tisch neben seinem Teller mit Pflaumenkuchen aus: Es waren Aufnahmen vom Tatort, von einem toten Körper, der in einer Blutlache lag. Von der Wunde in Nahaufnahme und von dem Torso. Ein Foto zeigte den Tatort aus größerer Entfernung, das Aaseeufer und die Torminbrücke. Die Polizeiabsperrungen.
»Dr. Hattkämper sagt, dass die Tatwaffe nicht irgendein Messer sein kann«, erklärte Bühlow. »Der Mörder hat ein hochwertiges Schwert benutzt, eine Art Samuraischwert mit einer außergewöhnlich scharfen Klinge.«
De Jong schob die schlimmen Fotos zusammen und gab sie Bühlow zurück. Einen Menschen zu töten, indem man ihm den Kopf abschlug, machte die Sache in seinen Augen auf eine irrationale Art und Weise noch schlimmer. Es blieb ein Torso zurück, der weniger menschlich aussah, nur wie der klägliche Rest von einem Menschen. Der Exkommissar entschied, dass er sich in seinem Leben genug Tatortfotos angeschaut hatte. »Noch ein Stück Kuchen, Herr Kommissar?«, fragte er.
»Die Sache ist die«, sagte Bühlow, während er de Jong seinen Teller zum Auflegen hinhielt, »dass es in den Thrillern des Ermordeten richtig zur Sache geht. Da wird fast nie geschossen, sondern immer zerstückelt, gehäutet und gekocht. Das neue Buch, das morgen mit großem Medienrummel auf den Markt kommt, handelt von einem Täter, der seine Opfer aufisst.«
»Frauen«, sagte de Jong und nickte. »Also warum sucht ihr euch nicht besser eine Profilerin, statt mir die Zeit zu stehlen, die ich dringend für meine literarischen Inspirationen benötige?«
»Der Köpfesammler«, sagte Bühlow.
De Jong verzehrte noch etwas Pflaumenkuchen und schenkte Bühlow dann einen fragenden Blick.
»Das ist zwar nicht sein aktuelles Buch. Es kam vor ein paar Jahren heraus und handelt von einem Mann ohne Kopf, der umgeht und seine Opfer mit einem Schwert enthauptet.«
»Du meinst also, der Mörder bezieht sich auf dieses Buch?«
»Der Köpfesammler, genau.« Bühlow setzte ein listiges Lächeln auf, das etwas Unwiderstehliches an sich hatte, wie de Jong verwundert zur Kenntnis nahm. »Und da kommst du ins Spiel.«
3. Kapitel
De Jong konnte sich nicht verkneifen darauf hinzuweisen, dass es sich hier mitnichten um ein Spiel handele. Aber eigentlich wollte er nur sagen, dass er überhaupt keine Lust verspürte, ins Spiel zu kommen. Es lagen deutlich wichtigere Dinge an: sich um einen Handwerker zu kümmern, der die Heizung wieder in Stand setzte, und anschließend Giulia ausfindig machen und herausfinden, wie die Chancen standen, dass sie das vergeigte Wochenende abhaken und einen weiteren Neuanfang machen konnten – den vierten oder den vierzigsten, wer wusste das schon.
Aus zwei Gründen ließ er sich aber doch auf die Sache ein: Hauptkommissar Joachim Bühlow mochte kein kriminalistisches Jahrhunderttalent sein, was sein Onkel, Eugen Küppers, offenbar glaubte. Kriminalistisch gesehen tendierte der Junge eher in Richtung Inspector Closeau. Trotzdem unterschätzte man ihn leicht. Was de Jong anging, hatte Bühlow, der mit einem rätselhaften siebten oder achten Sinn ausgestattet zu sein schien, nämlich binnen kurzer Zeit dessen Achillesverse geortet: de Jongs Trägheit, wenn es darum ging, nein zu sagen. Oder: nein heißt nein. Oder: mir doch egal, mach was du willst. Bühlow hatte schnell begriffen, dass bei de Jong »nein« auch »na ja, vielleicht doch« heißen konnte. »Völlig ausgeschlossen« konnte gleichbedeutend sein mit »geht eigentlich nicht, es sei denn …«
Ein Mann ohne klare Kante, hatte Giulia ihn deshalb mal genannt. Und in einem Streit war auch noch Weichei dazugekommen, worauf de Jong ihr vorgehalten hatte, dass sie hart gekochte Eier noch nie gemocht habe. Und dass die Fähigkeit, seine Meinung zu ändern, von Intelligenz zeuge. Bühlow war pragmatischer. Er nahm die Neinschwäche de Jongs als das, was sie war: als ein Potenzial, das er für sich zu nutzen verstand.
So